Tatort – Masken

Hartmann, Schudt, Ratte-Polle, Mayer/Matschulla, Ayse Polat. Nichts als Sex im Kopf

Foto: WDR / Thomas Kost
Foto Rainer Tittelbach

Auf den Dortmunder „Tatort“ ist Verlass. Diesmal schaffen es die Regisseurin Ayse Polat in ihrem ersten Beitrag zum ARD-Krimi-Flaggschiff und die Autoren Arnd Mayer & Claudia Matschulla, unterstützt von einem spielfreudigen Ensemble, einen klassischen Whodunit eine Stunde lang offen und abwechslungsreich, thematisch anregend und ästhetisch reizvoll zu erzählen, bevor die titelgebenden „Masken“ (WDR / Zeitsprung Pictures) fallen und die Geschichte einen völlig überraschenden Twist bekommt. Soziale Rollen und Familienverhältnisse entpuppen sich als falsch, der Schein verdeckt das wahre Begehren, Gesellschaftskritik schimmert durch. Viele Figuren sind auf komplexe Weise emotional miteinander verbandelt und schicksalhaft verstrickt. Auch Bönisch und der tiefenentspannte Faber mischen kräftig mit im höchst unterhaltsamen Beziehungsclinch, bei dem sich auch noch ein Feminismus-Verächter und selbst ernannter „Muschi-Versteher“ lächerlich machen darf. Ein rundum gelungenes Krimi-Charakterkopf-Paket, bei dem gleich in der Tatort-Begehung die Vernetzung der Figuren kameratechnisch superb in Szene gesetzt wird.

Ein Polizeihauptmeister ist beim morgendlichen Joggen vorsätzlich überfahren worden. Vielleicht ein Racheakt. Der Mann war ein egoistischer Frauenaufreißer. Sex und hopp seine Devise. Auf der Eroberungen-Liste des verheirateten Mannes steht auch der Name der Polizistin Jessica (Michelle Barthel). Sie ist die Tochter von Katrin Steinmann (Anne Ratte-Polle), der Leiterin der Polizeiwache des Toten, die fortan viel damit zu tun hat, ihre schützende Hand über Jessica und einen Kollegen zu halten. Denn auch Paul Lohse (Jonas Friedrich Leonhardi), ein langjähriger Freund des Bilderbuch-Machos, macht sich verdächtig. Beide Männer hatten Kontakt zu einem windigen Zahnarzt (Simon Böer), der nebenher als Männlichkeits-Guru unterwegs ist. Seltsam auch, dass Lohse und Simone (Kyra Sophia Kahre), die junge Witwe, vor gar nicht so langer Zeit ein Paar waren. Die fällt aus allen Wolken, als sie erfährt, dass ihr Mann in einem Liebesnest Sex mit anderen Frauen hatte. Sexuell nicht ganz untätig sind derzeit auch Faber (Jörg Hartmann) und Bönisch (Anna Schudt). Sie eher brav: Der Kollege von der Spusi (Tilman Strauß) hat ihr bereits seinen Wohnungsschlüssel überreicht. Er dagegen geradezu fahrlässig: Sein Objekt des Begehrens ist die Kollegin Steinmann, die Mutter einer Verdächtigen also. Erst fährt er mit ihr Streife, dann schläft er mit ihr. Einen zunehmend freundschaftlichen Umgang miteinander pflegen dagegen Jan Pawlak (Rick Okon) und die neue Kollegin Rosa Herzog (Stefanie Reichsperger)

Tatort – MaskenFoto: WDR / Thomas Kost
Dortmunder Familienaufstellung. Zwischen dem sichtlich entspannten „Papa“ Faber (Jörg Hartmann) und der ebenfalls ziemlich ausgeglichenen „Mama“ Bönisch (Anna Schudt) bleibt es spannend. Zwar schlafen beide außerhäusig; trotzdem bleiben sie ein Paar. Gut, dass die „Jugend“ (Stefanie Reinsperger, Rick Okon) gar nicht renitent ist.

Nichts als Sex im Kopf. Dabei aber nur nicht die titelgebenden „Masken“ vergessen! Sonst könnte der Sexpartner ja erkennen, dass es nicht um Lust geht, sondern um Macht. Oder „die Anderen“ könnten entdecken, dass diese Beziehungen Fake sind und der Schein das wahre Begehren verdeckt. Auf den Dortmunder „Tatort“ ist Verlass. Diesmal schaffen es die Regisseurin Ayse Polat („En Garde“) in ihrem ersten Beitrag zum ARD-Krimi-Flaggschiff und die Autoren Arnd Mayer & Claudia Matschulla, unterstützt von einem spielfreudigen Ensemble, einen klassischen Whodunit eine Stunde lang offen und abwechslungsreich, thematisch anregend und ästhetisch reizvoll zu erzählen, bevor die Masken fallen und die Geschichte einen völlig überraschenden Twist bekommt. Der Bezugsrahmen wird verschoben, soziale Rollen und Familienverhältnisse entpuppen sich als falsch. Ein Lügensystem nimmt Gestalt an – und durch die gelebte Erfahrung schwingt Gesellschaftskritik („Alle tun nur so frei und offen“) mit. Viele (Episoden-)Figuren sind auf komplexe Weise emotional miteinander verbandelt und schicksalhaft verstrickt. Das ermöglicht, dass die beiden reiferen Kommissare geschmeidig mit ihren Befindlichkeiten an das Beziehungschaos innerhalb des Falls andocken können. Antizipiert wird das alles – wenn man so will – filmsprachlich in der Tatort-Begehung. In vielen Krimis ein notwendiges Übel, bei Polat und Bildgestalter Aljoscha Hennig kameratechnisch eine sinnlich-sinnhafte Plansequenz. Dreieinhalb Minuten ohne Schnitt: Das spiegelt Teamarbeit, Verbundenheit, und alle wichtigen Figuren kommen ins Bild.

Wie so oft und in „Masken“ mehr denn je lassen sich die Interaktionen im „Tatort“ Dortmund als Familienverhältnisse lesen. Die Wogen auf dem Kommissariat sind geglättet. Die renitenten Kinder, Daniel Kossik und Nora Dalay, sind aus dem Haus, die neue „Jugend“ macht keine Probleme, und wenn Pawlak und Herzog selbst welche haben sollten, dann machen sie es untereinander aus, vor allem Rosa ist bemüht, eine vorbildliche Tochter und eine gute Schwester zu sein. Und so können sich Faber und Bönisch auf das Beziehungs-Dreieck mit Katrin Steinmann (Ratte-Polle vielgesichtig) konzentrieren. Während der Ausbildung vor über zwanzig Jahren war sie Bönischs beste Freundin, und heute ist Faber von ihrer bodenständig realistischen Art sichtlich fasziniert. Ob sie mit ihm schläft, um ihrer verdächtigen Tochter einen psychologischen Vorteil zu verschaffen? Man weiß es nicht.

Tatort – MaskenFoto: WDR / Thomas Kost
Tatort-Begehung als filmästhetisch wertvolle Exposition. Dreieinhalb Minuten ohne Schnitt: Das spiegelt Teamarbeit, Verbundenheit, und alle wichtigen Figuren kommen ins Bild. Anne Ratte-Polle, Michelle Barthel, Jonas Friedrich Leonhardi, Jörg Hartmann

Faber ist auf jeden Fall sehr viel entspannter, nachdem er seinen Erzfeind Graf von der Backe hat. Zwar ist er eifersüchtig auf diesen Haller, aber er dürfte klug genug sein, um zu erkennen, dass das zwischen Bönisch und dem Mann von der Spurensicherung nicht von Dauer sein kann. Einer, der ihr seinen Hausschlüssel gibt; das riecht nach Fernsehen und Pantoffeln. Ist das das Richtige für eine Frau, die vor nicht langer Zeit in Hotels flüchtige Sex-Abenteuer suchte? Bönisch ist nicht umsonst bei der Kripo. Diese Frau braucht Nervenkitzel und Herausforderungen. Und sie braucht Faber („Ich mag sie, das reicht doch“). Wie Jörg Hartmann und Anna Schudt ihr Doppel anlegen ist mal wieder große Klasse. Einerseits spürt man die große Vertrautheit, gegen die dauerhaft kein anderer ankommen kann, andererseits ist da etwas Spielerisches, das ihre Kommunikation stets frisch & überraschend wirken lässt und die beißende Ironie von einst ersetzt hat. Egal ob Sex oder nicht, die beiden bleiben ein Paar. Und so wirken ihre Ausflüge zu fremden erogenen Zonen wie die Versuche eines in die Jahre gekommenen Ehepaars, außerhäusig noch einmal den eigenen Marktwert zu testen.

Tatort – MaskenFoto: WDR / Thomas Kost
Noch ist er Herr der Lage. Der Zahnarzt (Simon Böer) und „Fraueneroberer“ (700 auf einen Streich – das heißt: in 10 Jahren) gibt sich cool und hat offenbar auch ein Alibi.

Auch wenn der Fokus in „Masken“ auf das Zwischenmenschliche gerichtet ist, werden erfreulicherweise wie so oft im „Tatort“ aus Dortmund auch gesellschaftliche Bezüge hergestellt. Der aggressive Kampf der Geschlechter wird von männlicher Seite aus geführt. Ein Leader der sogenannten „Pick-Up-Artists“-Szene ruft, die – wie er sagt – vom Feminismus völlig verunsicherten Männer dazu auf, endlich das idealisierte Frauenbild vom Sockel zu stoßen. „Ich heul nicht rum, ich frage nicht, ich nehme mir, was ich brauche“, ruft dieser während eines Seminars ins testosterongeschwängerte Rund. „Der Löwe frisst, wenn er Hunger hat.“ Die Kommissare sind auch im Saal. Faber wird sogar auf die Bühne geholt, um seine Männlichkeit zu trainieren. Ein starker Moment. Bei diesem selbsternannten „Muschi-Versteher“ (700 Frauen in 10 Jahren) hat sich auch der Tote für seine Anmache die nötigen Tipps geholt. Ebenso sein Freund Lohse. Der baggert während der Ermittlungen sogar Kommissarin Herzog an, und auch bei seiner Ex würde er gern wieder landen. Seine Erfolge bleiben allerdings überschaubar. Im Vergleich mit seinem toten Freund ist er immer der Dumme… Bönisch, die einzige Frau im „Eroberungsseminar“, hat diese Uraltversion eines  Trophäen-Jägers sowas von gefressen: Die will dem Doktor deshalb unbedingt noch einen reinwürgen: also macht sie ihn an, um ihn mit seiner eigenen Geilheit zu schlagen. Auch schön… und ein letztes Augenzwinkern in einem Krimi, bei dem es im Schlussdrittel psychologisch zunehmend ans Beziehungs-Eingemachte geht. (Text-Stand: 1.11.2021)

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Reihe

WDR

Mit Jörg Hartmann, Anna Schudt, Anne Ratte-Polle, Stefanie Reinsperger, Rick Okon, Michelle Barthel, Jonas Friedrich Leonhardi, Kyra Sophia Kahre, Simon Böer, Tilman Strauß, Jule Gartzke

Kamera: Aljoscha Hennig

Szenenbild: Julian Augustin

Kostüm: Brigitte Nierhaus

Schnitt: Thomas Stange

Musik: Martin Berger, Matthias Wolf, Martin Rott

Redaktion: Frank Tönsmann

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures

Produktion: Michael Souvignier, Till Derenbach, Katrin Kuhn

Drehbuch: Arnd Mayer, Claudia Matschulla

Regie: Ayse Polat

Quote: 9,76 Mio. Zuschauer (28% MA)

EA: 28.11.2021 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach