Tatort – Kressin stoppt den Nordexpress

Sieghardt Rupp, Gitte Haenning, Ivan Desny, Menge, von Sydow. Kapitaler Thriller

Foto: WDR
Foto Tilmann P. Gangloff

„Kressin stoppt den Nordexpress“: Schon der Titel verspricht einen Film, der weit über das bis dahin gewohnte Maß eines Fernsehspiels hinausgeht. Der lässige Zollfahnder sitzt zufällig im gleichen Zug wie zwei Schwerverbrecher, die von Schweden nach Deutschland überführt werden. Sein Erzfeind Sievers hat einen brillanten Plan ausgeheckt, um die beiden zu befreien, aber Kressin macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Rolf von Sydow inszeniert die für einen TV-Krimi wie den „Tatort“ fast schon spektakuläre Geschichte als packenden Thriller, dem die lockeren Sprüche des Helden genau die richtige Prise Humor verleihen.

Als der Krimi entstanden ist, war es noch gar nicht so lange her, dass TV-Produktionen ausschließlich im Studio gedreht wurden. Mit Zollfahnder Kressin, vom Österreicher Sieghardt Rupp stets mit einer unverschämten Lässigkeit verkörpert, bewies der WDR bereits gleich zu Beginn, wie breit das Spektrum der im Jahr kurz zuvor gestarteten neue Reihe „Tatort“ war. Ungewöhnlich auch, dass der WDR die ersten drei Fälle des gern außerhalb der Landesgrenzen ermittelnden Zoll-Oberinspektors 1971 innerhalb von vier Monaten zeigte. Kressin wurde von der zeitgenössischen Kritik etwas abschätzig als James-Bond-Verschnitt tituliert, seine Abenteuer galten daher als Parodie, aber damit wird man den Filmen nicht gerecht, selbst wenn Wolfgang Menge seinen Helden mit viel Ironie versehen hat.

„Kressin stoppt den Nordexpress“, erstmals ausgestrahlt im Mai 1971, war Kressins dritter Fall und erzählt eine Geschichte, deren fesselnde Umsetzung auch Jahrzehnte später noch faszinierend ist. Der Film beginnt mit einer cleveren Parallelmontage, die umgehend die Neugier schürt, weil Menge zunächst völlig offen lässt, worauf das Ganze hinausläuft: In Schweden werden zwei Ganoven von Polizisten zu einem Bahnhof eskortiert. Während der Zug durch die verschneite Landschaft braust, trainiert eine Gruppe von Gangstern viele hundert Kilometer südlich einen komplizierten Coup, bei dem offenbar ebenfalls ein Zug eine Rolle spielt, denn einer der Verbrecher übt am Simulator, wie man eine Lokomotive bedient. Nach und nach stellt sich heraus: Die Ganoven aus dem Zug sind zwei lang gesuchte Schwerverbrecher, die nach Deutschland überführt werden sollen; und bei den Gangstern handelt es sich um die Truppe von Kressins Dauergegenspieler Sievers (Ivan Desny).

Tatort – Kressin stoppt den NordexpressFoto: WDR
Sieghardt Rupp & Gitte Haenning, die vor allem als (Schlager-)Sängerin bekannt war, in „Tatort – Kressin stoppt den Nordexpress“. Natürlich muss sich der Playboy-Zollfahnder 1971 auch darüber informieren, was es in Skandinavien so alles zu kaufen gibt (während es in Deutschland bis 1975 ein Pornografie-Verbot gab).

Der Plan zur Befreiung der Häftlinge erinnert in seiner Detailfreude an den berühmten englischen Postraub (1963), dessen Verfilmung 1966 unter dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ deutsche Fernsehgeschichte geschrieben hat. Was Aufwand und Spektakel angeht, braucht Rolf von Sydows Inszenierung den Vergleich mit dem Dreiteiler nicht zu scheuen, zumal sich Menges offenbar sorgsam recherchiertes Drehbuch eng an die Eisenbahnrealität hält. Auf diese Weise bietet der Film neben der packenden Krimihandlung auch noch hochinteressante Blicke hinter die Kulissen des Bahnbetriebs. Unter anderem besetzen die Gangster das Stellwerk in Puttgarden, um gegen alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Auf eines sind sie allerdings nicht vorbereitet: Ähnlich wie viele Jahre später John McClane in den Filmen der Bruce-Willis-Kinoreihe „Stirb langsam“ ist Kressin wieder mal zur falschen Zeit am falschen Ort; jedenfalls aus Sicht der Kriminellen. Dabei beginnt die Geschichte für den Zollfahnder ganz harmlos: Eigentlich soll er in Kopenhagen nach Pornoschmugglern suchen, doch er nutzt die Gelegenheit zur Liebelei mit einer einheimischen Freundin (gespielt von der Dänin Gitte Haenning, schon damals eine der beliebtesten Schlagersängerinnen hierzulande: „Ich will ’nen Cowboy als Mann“). In dem Zug mit den Verbrechern landet er, weil er zufällig entdeckt hat, dass eine weitere Dänin (Yvonne Ingdal) gleich kofferweise Pornohefte gekauft hat. Während er die hübsche junge Frau sehr zum Missfallen eines verklemmten Mitreisenden hemmungslos anbaggert, haben Sievers’ Gangster Zug- und Lokführer überwältigt.

Klugerweise hat von Sydow, dank der Durbridge-Mehrteiler „Wie ein Blitz“ (1970) und „Das Messer“ (1971) einer der großen Krimiregisseure jener Jahre, nicht den Fehler begangen, Menges Augenzwinkern zusätzlich zu inszenieren. Witzig sind allein die Auftritte des Zollfahnders, aber nicht, weil er eine komische Figur ist, sondern weil es nicht lassen kann, seine Aktionen stets mit einem flotten Spruch zu schmücken; außerdem flirtet er zwanghaft mit jeder attraktiven Frau, die ihm über den Weg läuft. Ohne Rupps Dialoge wäre „Kressin stoppt den Nordexpress“ durch und durch ein Thriller; der Reiz der Kressin-Krimis liegt gerade in der Mischung der Genres. Der Mix funktioniert auch heute noch, zumal viele Zugszenen augenscheinlich nicht im Studio, sondern tatsächlich bei voller Fahrt entstanden sind. Der optische Aufwand ist ohnehin beeindruckend: Nachdem Kressin seinem Vorgesetzten per Zugtelefon einen verschlüsselten Hinweis gegeben hat, rückt eine ganze Hundertschaft aus; der Zug wird außerdem von einem Hubschrauber verfolgt. Ein wirkungsvoller Spannungsverstärker ist auch die Musik Klaus Doldingers, der zu den Bildern der wie die Kavallerie anrückenden Polizei seine eigene Titelmelodie aufgreift.

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Reihe

WDR

Mit Sieghardt Rupp, Yvonne Ingdal, Gitte Haenning, Ivan Desny, Edgar Hoppe, Nino Korda, Uta Levka, Wolfgang Grönebaum, Dieter Wagner

Kamera: Franz Rath, Jürgen Jürges

Szenenbild: Manfred Luetz

Kostüm: Dela Fredrich

Schnitt: Alexandra Anatra

Musik: Klaus Doldinger

Produktionsfirma: Westdeutscher Rundfunk

Drehbuch: Wolfgang Menge

Regie: Rolf von Sydow

EA: 02.05.1971 20:15 Uhr | ARD

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