Drogendeals, ein totes Kind & ein Totschläger
Ein sechsjähriges Mädchen stirbt an einer Überdosis Kokain, das sie für Bonbons gehalten hat. Nach einer Razzia auf einem Dortmunder Spielplatz, der als Drogenumschlagsplatz berüchtigt ist, verbuddelten offenbar die Dealer das Kokain, das bunt und in Tüten verpackt war, im Sandkasten, wo die kleine Emma sie fand. Die Sieberts (Sönke Möhring / Alexandra Finder), die Eltern des toten Mädchens, sind außer sich. Ein Freund der Familie, Dieter Lahnstein (Werner Wölbern), und sein Sohn Oliver (Axel Schreiber), ein Sanitäter, der nicht mehr helfen konnte und sich deshalb Vorwürfe macht, stehen Emmas Eltern bei. Rasch werden der junge Senegalese Jamal (Warsama Guled) und seine 18jährige Schwester Niara (Victoire Laly) als die mutmaßlichen Dealer ermittelt. Die beiden sind untergetaucht. Faber (Jörg Hartmann) hält aber die Kiez-Größe Tarim Abakay (Adrian Can) für den Drahtzieher der Drogengeschäfte. Dann wird Niara tot aufgefunden – ausgerechnet von Emmas Vater, der sich mit den Lahnsteins selbst auf die Suche nach den Dealern gemacht hat. Da er den Tod des Mädchens meldet, ist es unwahrscheinlich, dass er der Mörder ist. Andererseits hatte er einen Totschläger dabei – und eine solche Stahlrute ist die Tatwaffe. Als wenig später ein weiterer Dealer erschlagen wird, verfestigt sich Fabers Einschätzung: „Da räumt einer auf.“
Menschen, Leben & Beziehungen kollabieren
Die Flüchtlingsproblematik und ihr sozialer Sprengstoff ziehen sich durch den siebten „Tatort“ aus Dortmund. Wer nicht arbeiten darf, wird in den Überlebenskampf auf der Straße gezwungen. Das Abrutschen ins kriminelle Milieu ist also vorprogrammiert. Einzuschätzen, wie das deutsche Kleinbürger finden, bedarf es keiner großen Phantasie. Drehbuchautor Jürgen Werner, der bis auf den letzten Fall bisher alle Bücher für dieses eigenwillige „Tatort“-Team geschrieben hat, und Regisseur Dror Zahavi arbeiten sich in „Kollaps“ zwar an einem „gesellschaftlich relevanten“ Thema ab, haben aber weder gut gemeinte moralische Appelle noch wohlfeile politische Patentlösungen parat. Die Metapher des Titel gebenden Kollapses findet sich auf zahlreichen Ebenen einer an Bildern und Motiven überaus reichen Geschichte. Als erstes kollabiert das Mädchen auf dem Spielplatz. „Dadurch kollabiert das Leben der Eltern“, so Autor Werner, „Ihr Weltbild aus Verständnis und Toleranz gerät aus den Fugen.“ Auch Kommissarin Bönischs Leben kollabiert. Nicht nur die Ehe kaputt, die Trennung kostet sie auch ihre Kinder. Die Folge: Leben im Hotel, Nächte an der Bar, Sex mit Männern auf der Durchreise. Nach Faber, der für seine Verhältnisse ordentlich, aber nicht übermäßig provoziert und beleidigt, ist der private Gang auf der Rasierklinge nun an Martina Bönisch. Die Nähe zwischen den beiden nimmt weiter zu – und ganz beiläufig (und doch ein Symbol) steckt er ihr ein paar Psychopillen zu. Am Ende aber kollabiert auch sein „System“. Mit einer Bierflasche auf einer Parkbank verabschiedet er sich aus dem Film, nachdem die „Beziehung“ zwischen ihm und seinem jungen Kollegen „zusammengebrochen“ ist. Und einen staatlichen Kollaps durch die vielen Asylbewerber befürchtet einer der Tatverdächtigen, Lahnstein senior: „Das ist ein gesellschaftlicher Tsunami, der da auf uns zurollt.“
Grundsatz-Dialog zwischen Faber und Bönisch:
Faber: „Der Junge ist eine arme Sau.“
Bönisch: „Er ist mitverantwortlich an einem sechsjährigen Mädchen.“
Faber: „Die einen verkaufen die Drogen, andere kaufen sie. Wieder andere spielen im Park Frisbee oder schieben ihre Kinderwagen, alle kriegen’s mit, aber halten die Klappe. Die Bullen sind unterbesetzt, die Stadt ist überfordert. Deswegen ist ein sechsjähriges Kind tot. Wen wollen Sie denn dafür ans Kreuz nageln? Die Dealer? Die Junkies? Die Nachbarn? Die Bullen? Vater Staat? Emma? Emmas Mama? Freie Auswahl.“
Schweres Thema, Krimi & horizontales Erzählen
„Kollaps“ vollzieht einen Drahtseilakt. Politik, Krimi, Privatgeschichten – alles muss zusammenpassen. Und es passt. Ohne dass die kleinen Leute mit ihren Rachegedanken zum Abschaum gemacht würden. Ohne dass moralische Entrüstung, eine Emotion, die in Filmen äußerst billig zu haben ist, zum Hauptantrieb beim Zuschauer werden würde. Und auch ohne dass sich die Kommissare als Gutmenschen mit Haltungsnote 1 aufschwingen müssen. Das, was Jürgen Werner beschreibt und was er den Menschen in den Mund legt, ist aus ihrer subjektiven Sicht einigermaßen verständlich. Ausgerechnet Wut-Cop Faber, der zwar mit vollem Risiko – und sicherlich den Mord an seiner Tochter im Bauch – bei diesem Fall zu Werke geht, wird mit seiner Meta-Betrachtung zum Botschafter der Autoren-Meinung (siehe Dialog im Kasten). Die sonst so pragmatisch abgeklärte Bönisch ist dagegen dieses Mal weniger tolerant drauf. Es muss nicht der Tod sein, der einem die Kinder nimmt. Für sie persönlich bekommt der Satz „Für eine Mutter ist es immer schrecklich, ihre Kinder zu verlieren“, eine äußerst schmerzhafte Bedeutung. Der Subtext der Geschichte streift auch den universalen Konflikt zwischen Söhnen und Vätern. Vor allem Kommissar Kossik, der sich in einer Szene mit dem sich als Loser fühlenden Sanitäter über dieses ewige Thema austauscht, leidet unter dem Druck der „Alten“: seinem Vater, dem er es nie recht machen konnte, und seinem Vorgesetzten Faber, dessen provokantes Wesen er verabscheut; und jetzt hat zu allem Überfluss auch noch Nora nach einem „Sugar-Daddy“ die Angel ausgeworfen.
Alle diese narrativen Bezüge und psychologischen Spiegelungen sind sichtbar, wenn man sie sehen möchte, aber weder das Drehbuch noch Zahavis Regie drängen sie dem Zuschauer auf. Motive wie der Kindsverlust, die dezente Borderline-Transformation von Faber auf Bönisch oder Daniel Kossiks „Vaterkonflikt“ werden nicht offen thematisiert und so funktionieren sie zunächst in ihrer dramaturgischen Funktion, erzeugen das, was Ästhetik-Kritiker gern „Dichte“ nennen. Wer dem Plot auf den Grund gehen will, kann dies tun und je besser er die sechs bisherigen Episoden vom „Tatort“ Dortmund mit seiner vorbildlichen Art, horizontales Erzählen moderat zu etablieren, kennt – umso mehr dürfte er finden und umso mehr Vergnügen wird er am überaus Alleingänge-haltigen „Tatort“ Nr. 7 haben, den Zahavi konzentriert, sachlich, aber auch nicht unelegant und angemessen in „Tatort“-Dortmund-liker Schmuddel(wetter)optik inszeniert hat. Da der WDR die ersten sechs Folgen vor der Ausstrahlung von „Kollaps“ wiederholt, können sich die Zuschauer (noch einmal) selbst überzeugen von der Qualität seines dritten „Tatort“-Ablegers. (Text-Stand: 26.9.2015)