Biggi Lohmann (Katharina Marie Schubert) und ihr Mann Hajo (Peter Trabner) stehen mit ihrem Solar-Betrieb vor der Pleite. Um Geld von der Versicherung zu kassieren, wollen sie einen Einbruch vortäuschen, bei dem die letzte Lieferung seltener Erden aus China geraubt wird. Während Hajo gefesselt auf dem Stuhl sitzt, soll Biggi ihm eine Kugel in den Oberschenkel jagen, was eine Weile dauert, denn die Aktion verlangt vor allem dem jammernden Gatten große Überwindung ab. Kaum hat Biggi abgedrückt, platzt Jürgen Röhrig (Thorsten Merten), der Mann vom Sicherheitsdienst, herein. Biggi dreht sich erschrocken um und jagt ihm reflexartig eine Kugel mitten in die Stirn. Dass der verletzte Hajo der Polizei erzählt, die Einbrecher seien drei Männer mit russischem Akzent gewesen, scheint zu diesem Präzisionsschuss zu passen. Die seltenen Erden sind allerdings tatsächlich weg, beiseite geschafft von Lagerleiter Uwe Ohlberger (Godehard Giese), der nun – ähnlich wie Biggi – eher unbedarft immer tiefer ins Verbrechen hineinschlittert. Gemeinsam mit seinem Komplizen Sahni (Ronald Kukulies) plant er einen eigenen Deal mit den wertvollen Metallen.
Es dauert nicht lange, und man wähnt sich mal wieder in einer „Fargo“-Szenerie. Auf die groteske Anfangssequenz mit Amateuren, die Verbrecher spielen und nur ein noch größeres Unheil anrichten, folgt eine malerische Landschafts-Einstellung mit tristen Feldern, einem einsamen Baum und den beiden winzigen Kommissaren Brix (Wolfram Koch) und Janneke (Margarita Broich) vor einer großen, weißen Nebelwand. Der Hessische Rundfunk (HR) spielt in seinen „Tatort“-Filmen gerne mit cineastischen Vorbildern und mit den Gesetzen des Genre-Kinos, auch die Folge „Falscher Hase“ steht in dieser Tradition. Nun ist es zwar längst nicht mehr sehr originell, sich auf die Coen-Brüder zu beziehen. Aber ein großes Vergnügen ist es eben doch, wie Emily Atef („Das Fremde in mir“, „Drei Tage in Quibéron“) in ihrem ersten „Tatort“ die Balance aus Krimi, Groteske und Tragikomödie hält. Atef hat auch, gemeinsam mit Lars Hubrich, das Drehbuch für „Falscher Hase“ verfasst.
Die Helden, ganz normale Typen aus der Vorstadt oder dem Reihenhaus, verstricken sich wie bei den Coen-Brüdern mit einer komischen Zwangsläufigkeit ins eigene Unglück. Dabei meinen sie es nur gut wie Biggi und Hajo, die ihren Betrieb retten wollen, sind heillos überfordert wie der harmlose Uwe, oder überschätzen sich gewaltig wie Sahni, der gerne den taffen Gangster gibt. Sahni wendet sich an Rick (Friedrich Mücke), den kleinen Bruder eines Feinkosthändlers, der tatsächlich krumme Geschäfte betreibt. Rick hat eine Affäre mit seiner Schwägerin Anouk (Johanna Wokalek als Femme fatal im Pelzmantel) und will ihr und sich selbst beweisen, dass er auch mal einen eigenen großen Deal einfädeln kann. Eine Sexszene mit Mücke und Wokalek gibt es auch: „Wie viele nackte Frauen durften die Zuschauer seit der Erfindung des Kinematografen der Brüder Lumière sich anschauen? Die meisten Zuschauer sind weiblich, wo sind also die nackten Männer?“, fragt Emily Atef – und liefert in diesem „Tatort“ zumindest einen.
Frisuren und Kostüme verweisen zum Teil überdeutlich auf die „gewöhnliche“ Herkunft der Protagonisten, was dann etwas klamaukig wirkt. Dafür spiegelt das Szenenbild der drei Wohnungen von Biggi und Hajo, Uwe sowie der Witwe Röhrig erstklassig die verschiedenen Charaktere. Überall scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Bei dem nach wie vor schwer verliebten Paar, das seit seiner Hochzeit in symbiotischer Zweisamkeit verharrt; bei dem Junggesellen, dem die virtuelle Parallelwelt seines Flugsimulators genügt; und bei der traurigen Witwe (großartig: Judith Engel), die verwundert feststellt, dass sie ihren Mann gar nicht vermisst hätte, wenn die Polizei nicht von seinem Tod berichtet hätte. Bei aller Situationskomik und trotz einer Inszenierung, die die Realität immer eine Spur ins Skurrile dreht, behält der Film die notwendige Ernsthaftigkeit im Umgang mit seinen Figuren und den großen Themen wie Liebe und Einsamkeit.
Emily Atef arbeitet darüber hinaus mit ausgesprochen sinnlichen Metaphern: Während bei dem Solar-Unternehmen die Lichter auszugehen drohen, wird Hessen von einem Kälterekord im grauen November – passt auch gut zur „Fargo“-Anmutung – heimgesucht. Auf dem Kommissariat ist die Heizung ausgefallen, weshalb Janneke und Brix stets mit Schal und Winterjacke am Schreibtisch sitzen und im Hintergrund Handwerker tätig sind. Und dann sind da die zahlreichen Nahrungsmittel, die ein roter Faden der Inszenierung sind und jeweils für verschiedene Emotionen und Lebenswelten stehen: Plätzchen, ganze Kuchen, Pralinen und natürlich Biggis mit besonderer Hingabe zubereiteter Hackbraten. Im Gegensatz zu dieser Hausmannskost werden die Spezialitäten im kalten Feinkostladen präsentiert wie Kunstwerke in einer Galerie, die man nicht anfassen darf.
So hat dieser Film im Detail einiges fürs Auge (und Hirn) zu bieten, doch ein Krimi mit Tempo, Spannung und exzellenter Musik ist „Falscher Hase“ eben auch. Die Kommissare treten in dem Fall, der statt im Frankfurter Großstadt-Dschungel in einem zeitlosen hessischen Niemandsland zu spielen scheint, etwas in den Hintergrund und führen reserviert und trocken – als Kontrast zur durchgeknallten Welt um sie herum – die Ermittlungen. Nur Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern), der Janneke nicht in die Augen schauen mag, verhält sich ausgesprochen seltsam. Aber auch das erfährt im Finale noch eine Wendung, die ganz gut in diese bitterkalte und zugleich warmherzige Krimikomödie passt. (Text-Stand: 16.8.2019)