Für die 16jährige Nadine Petsokat endet der radikale Bruch mit ihrer Herkunft tödlich. Vergewaltigt, geschlagen, ertränkt. Sie wollte raus aus dem dem Dortmunder Hochhausgetto ihrer Eltern, wollte rein in die “andere Welt” der Schönen und Reichen. In beiden Milieus sind die Kommissare nicht gern gesehen. Aber Faber & Co haben auch so reichlich Material für Hypothesen und ihre nachgespielten Tathergänge. Muss man von zwei Tätern ausgehen? Weshalb wollte ihr Vater Nadine in der Todesnacht treffen? Auf welchen der schönen, arroganten Jungmänner hatte das Mädchen ein Auge geworfen? Und welche Rolle spielen der Ex-Freund und die beste Freundin der Toten, die Nadine mit Pillen und Geschenken versorgt haben? Faber, Bönisch als Aufpasserin im Schlepptau, nimmt sich die Petsokats zur Brust; Nora und Daniel hoffen, bei den jungen Leuten auf Verdächtiges zu stoßen. Aber Mauertaktik allerorten. Dafür sorgen alle vier, dass ihr Privatleben an Klarheit gewinnt. Faber rastet noch ein letztes Mal so richtig aus, Bönisch sucht nicht länger Befriedigung bei einem Callboy und das junge Liebesglück zwischen Nora und Daniel gewinnt weiter an Beständigkeit.
Foto: WDR / Thomas Kost
“Eine andere Welt” ist der dritte und bislang beste WDR-“Tatort” aus Dortmund. Das Team gewinnt weiter an Kontur. Die anfangs irritierenden Ausbrüche und Ausfälle des Kommissariatsleiters werden nicht nur gewöhnungsbedingt hingenommen, sie werden deutlicher denn je kurzgeschlossen mit dem Unfalltod von Frau und Tochter. Faber bekommt etwas mehr Klarheit über die Umstände des Todes der beiden – und wird danach ruhiger. Damit sollte es dann auch (vorerst) gut sein. Das andere, das bisher viele Zuschauer irritiert hat, das Nachspielen von Mordszenarien und – in dieser Episode – einer Vergewaltigung, das hat dramaturgisch ein anderes Kaliber und ist das Alleinstellungsmerkmal von Faber, dem Täter-Fixierten, und Bönisch, der stets eher Opfer-orientierten Ermittlerin. Das Täter-Opfer-Spiel der beiden wird dieses Mal noch direkter, härter und übergriffiger, als in der szenischen Mordkonstruktion am See die beiden plötzlich das Gespielte mit ihrer eigenen Biographie vermengen: das Ermittlungsspiel kippt und endet mit Handgreiflichkeiten. Diese Art anschaulichen Denkens, dieses vitale, physische Kombinieren, besitzt eine Sinnlichkeit und visuelle Eindringlichkeit, die dem Medium entspricht und dem Genre TV-Krimi gut tut.
Gleiches gilt für Fabers provokante Ermittlungsmethoden. Sein Umgangston, seine konfrontative, sarkastische, oft geradezu beleidigende Art. Diese kann man sehen als eine Möglichkeit, im Konzert der Krimi-Reihen besser wahrgenommen zu werden. Man kann sie aber auch sehen als eine Ermittlungsvariation und eine Möglichkeit, die immergleichen Versatzstücke von Krimihandlungen zu verfremden, man kann sie sehen als eine behutsame Dekonstruktion der Genremuster und vor allem aber als Abwechslung für den Zuschauer. Darüberhinaus spiegelt sich in dieser aggressiven Kommissarsarbeit gleichsam auch ein Stück weit Fabers Charakter. Dieser Mann kann Schöngeerde und Heuchelei nicht ab. Auch seine Kollegen bekommen das zu spüren. Das entspricht zwar nicht der kulturellen Norm, ist aber durchaus erfrischend. Vielleicht wirkt das eine oder andere noch ein bisschen (vom Sender) “gesetzt”, deutlicher aber wird, dass dieses “Tatort”-Dortmund-Konzept in sich stimmig ist.
Foto: WDR / Thomas Kost
Zu dieser Stimmigkeit gehört in “Eine andere Welt” ganz besonders auch das Regie- und Kamerakonzept. Andreas Herzog findet eine sehr passende Filmsprache für seinen “Kommissar von der dritten Kloschüssel hinten links”. So wie Faber mit seinen Alleingängen von der Normalität abrückt, so loten auch der Regisseur und Kameramann Ralf Noack die Grenzen des ästhetisch Machbaren aus. Der Anti-Held am Bildrand, manchmal droht er geradezu aus dem Bild zu fallen. Das ist mehr als moderne Bildsprache, mehr als ein optischer Effekt, mehr als ein sinnlicher Reiz. So werden die Figuren im wahrsten Sinne des Bildes zu Rand-Existenzen. Die stärkere Ästhetisierung des 90-Minüters passt zu Faber & Co. Auch wenn sie aus Dortmund kommen und Hartmann, Schudt, Tezel und Konarske es eindrücklich gelingt, etwas Bodenständiges, Unglamouröses in ihren Charakteren zu verankern – so sind sie doch nicht die Ermittler von nebenan (auch wenn es immer noch Zuschauer glauben), sondern TV-Kommissare, Kunstfiguren. Der “Tatort – Eine andere Welt” macht das deutlich.