Tatort – Der Mörder in mir

Richy Müller, Felix Klare, Reinke, Nekrasov, Hecke, Niki Stein. Der Mann, der lügt

Foto: SWR / Benoit Linder
Foto Tilmann P. Gangloff

„Der Mörder in mir“ (SWR) von Niki Stein (Buch und Regie) ist nicht so fulminant wie sein Stuttgarter „Tatort“ über ein wild gewordenes Computerprogramm („HAL“) oder so fesselnd wie einst seine Frankfurter Trilogie über das Böse, aber die bodenständige Geschichte hat ihren eigenen Reiz. Der Film handelt von einem ganz normalen Feigling: Ein Anwalt hat bei der Heimfahrt einen Moment nicht aufgepasst, und schon bricht sein gesamtes Dasein aus den Fugen. Je mehr er sich abstrampelt, um den Unfall mit Fahrerflucht zu vertuschen, desto tiefer versinkt er im Treibsand seiner Lügen. Das Drehbuch des preisgekrönten Regisseurs erinnert an die Fabel vom Frosch, der in den Milchtopf gefallen ist und nun so lange zappelt, bis die Milch zu Butter wird. Besonderen Spaß macht die Rolle des Rechtsmediziners, der bei passender Gelegenheit Karl Popper und Shakespeare zitiert.

Vor einigen Jahren trug ein „Tatort“ aus Stuttgart den Titel „Der Mann, der lügt“ (2016). So könnte auch dieser Krimi heißen. Niki Stein (Buch/Regie) erzählt darin die Geschichte eines ganz normalen Feiglings: Ein Stuttgarter Anwalt ist während eines nächtlichen Unwetters auf dem Heimweg. Als er wegen eines Telefonats für einen kurzen Moment nicht auf die Straße schaut, gibt es einen heftigen Aufprall. Der Mann hält an, steigt aus, schaut sich um und setzt sich wieder ins Auto; ein Reh möglicherweise, vielleicht auch ein Wildschwein. Aber dann stellt er fest, dass sich etwas am Heckscheibenwischer verfangen hat, und nun kann es keinen Zweifel mehr geben: Ben Dellien (Nicholas Reinke) hat einen Menschen auf dem Gewissen.

Tatort – Der Mörder in mirFoto: SWR / Benoit Linder
Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) am Unfallort, der zum Tatort wird: Unfall mit Todesfolge, Fahrerflucht.

„MacGuffin“ nannte einst Hitchcock Gegenstände, die eine Filmhandlung vorantreiben. Der „MacGuffin“ in „Der Mörder in mir“ ist die Kappe, die am Scheinwischer hing. Das allein ist als Idee schon ziemlich makaber, aber fortan wird Stein die Kopfbedeckung immer wieder auftauchen lassen. Dass sich Dellien nicht um das Opfer gekümmert hat, war der erste gefallene Dominostein. Er löst eine Kettenreaktion aus, die immer absurdere, aber dennoch jederzeit realistische Züge annimmt. Je mehr sich der Anwalt abstrampelt, um die Tat zu vertuschen, desto tiefer versinkt er im Treibsand seiner Lügen. Als erstes bringt er sein Auto in eine Waschanlage. Weil er es wegen eines Termins eilig hat, vergisst er die Kappe, aber eine Angestellte kennt ihn, ihre Kinder gehen in die gleiche Klasse, außerdem wohnt sie in der Nähe, also bringt sie ihm das Stück vorbei. Das wäre im Grunde nebensächlich, doch die Mütze trägt die Aufschrift „Foxy“. Sie war das Markenzeichen des Toten, ihr hat er seinen Spitznamen zu verdanken. Plötzlich ist der Mann im Straßengraben nicht mehr nur ein namenloses Opfer, sondern ein Mensch mit einer Biografie: Foxy ist vor Jahren durch einen Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen worden und hat seither auf der Straße gelebt.

Diese Entanonymisierung ist die nächste gute Idee Steins. Weil er die Handlung aus Sicht des Täters erzählt, kommt es automatisch zu einer gewissen Form der Identifikation, zumal der offenbar glücklich verheiratete Dellien, der kurz vor einem Karrieresprung steht, keineswegs unsympathisch ist. Er hat zwei Kinder, das dritte ist unterwegs, sein Leben war perfekt; aber dann hat er einen Moment nicht aufgepasst. Da Stein dem Opfer nicht nur einen Namen, sondern auch eine bewegende Geschichte gegeben hat (Foxy war auf dem Weg zum Grab seines Sohnes), soll der Täter natürlich nicht ungestraft davonkommen. Tatsächlich will er sich sogar stellen, was seine Frau (Christina Hecke) jedoch zu verhindern weiß; stattdessen versucht er auf immer drastischere Weise, die Spuren seiner Tatbeteiligung zu beseitigen. All’ das aber wird ihm nichts nützen, wenn die Car-Wash-Mitarbeiterin (Tatiana Nekrasov) zur Polizei geht; ein Foto, das Foxy mit seiner Mütze zeigt, ist längst durch alle Medien gegangen.

Tatort – Der Mörder in mirFoto: SWR / Benoit Linder
Johanna (Christina Hecke) macht ihrem Mann Ben (Nicholas Reinke) klar, dass er schon zu weit gegangen ist. Jetzt zur Polizei zu gehen, das wäre eine Katastrophe!

Niki Stein hat in den letzten dreißig Jahren einige erinnerungswerte „Tatort“-Beiträge geschrieben und inszeniert, anfangs für den WDR, später für den HR; allein seine Trilogie zum Einstand des Frankfurter Duos Dellwo/Sänger (Jörg Schüttauf, Andrea Sawatzki; 2002/03) war herausragend. Sein jüngster Krimi ist inhaltlich zwar längst nicht so fulminant wie seine Stanley-Kubrick-Hommage „HAL“ (2016) über ein Computerprogramm, das sich von seinem Schöpfer emanzipiert (ebenfalls ein „Tatort“ aus Stuttgart), und optisch eher bodenständig, aber diese Umsetzung entspricht der Handlung: „Der Mörder in mir“ erzählt eine im Grunde alltägliche Geschichte. Darin liegt der Reiz des Films: So etwas könnte mir auch passieren, und wie würde ich mich an Delliens Stelle verhalten? Deshalb verurteilt Stein seinen Antihelden auch nicht. Er beobachtet ihn vielmehr mit dem Interesse eines Forschers: Das Verhalten des Anwalts erinnert an die Fabel vom Frosch, der in den Milchtopf gefallen ist und nun so lange zappelt, bis die Milch zu Butter wird.

Der Rest ist Freude an den Kleinigkeiten. Neben einer eifrigen Kommissarsanwärterin (Julia Dorothee Brunsch) und einem nur scheinbar leutseligen Strafverteidiger (Hassan Lazouane) hatte Stein an der Rolle von Rechtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) offenkundig besonderen Spaß: Der Arzt beruft sich bei seinen Mutmaßungen auf Karl Poppers Kritischen Rationalismus, liefert sich mit Sebastian Bootz (Felix Klare) amüsante Scharmützel über Thesen und Antithesen und schüttelt bei Gelegenheit das passende „Hamlet“-Zitat aus dem Ärmel („Von so betörter Furcht ist Schuld erfüllt, dass, sich verbergend, sie sich selbst enthüllt“). Dass Stein, Autor und Regisseur großer Filme wie dem Scientology-Drama „Bis nichts mehr bleibt“ (2010), mehr als bloß ein Krimi zum Zeitvertreib vorschwebte, zeigt neben dem mutigen Schluss nicht zuletzt ein Gespräch der Kommissare über den Sinn ihrer Arbeit sowie der abschließende Appell von Thorsten Lannert (Richy Müller): Wie wäre es um die Welt bestellt, wenn alle wegsähen und sagten „Geht mich nichts an“? (Text-Stand: 12.8.2022)

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Reihe

SWR

Mit Richy Müller, Felix Klare, Nicolas Reinke, Tatjana Nekrasov, Christina Hecke, Jürgen Hartmann, Julia Dorothee Brunsch, Pina Kühr, Ulrich Cyran, Celina Rongen, Hassan Lazouane

Kamera: Stefan Sommer

Szenenbild: Anette Reuther

Kostüm: Susanne Fiedler

Schnitt: Isabelle Allgeier

Musik: Jacki Engelken

Redaktion: Brigitte Dithard

Produktionsfirma: Südwestrundfunk

Produktion: Nils Reinhardt

Drehbuch: Niki Stein

Regie: Niki Stein

Quote: 9,28 Mio. Zuschauer (31,1% MA)

EA: 18.09.2022 20:15 Uhr | ARD

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