Eine Schauspielerin bricht während der Vorstellung im Münchner Residenztheater auf offener Bühne zusammen. Konnte Nora Nielsen (Giulia Goldammer) dem Druck, Abend für Abend vor 800 Leuten leibhaftig zu spielen, nicht mehr standhalten? Bekannt geworden war sie mit einer Netflix-Serie. Ihre Popularität war offenbar mit ein Grund für die Intendantin (Anna Stieblich), die attraktive Schauspielerin ins Ensemble zu holen. Doch zuletzt war sie unzuverlässig, weigerte sich sogar zunächst, die Vorstellung, die ihre letzte werden sollte, zu spielen. „Sie war kaputt, und nichts konnte sie mehr heil machen“, bringt es der Star des Hauses, Gina Rohland (Ursina Lardi), auf den Punkt. Mit Opioiden schleppte sie sich von Auftritt zu Auftritt. Dabei sei sie anfangs ein so fröhlicher Mensch gewesen, sagt Garderobiere Ria (Liliane Amuat), eine ihrer Vertrauten im Team. Für die ermittelnden Batic (Miroslav Nemec) und Leitmayr (Udo Wachtveitl) ist es nicht leicht, sich ein Bild zu machen. Auffällig, wie alle in Richtung Suizid argumentieren. Es stellt sich jedoch bald heraus, dass Nora vergiftet wurde – mit dem „Wein“, den sie auf der Bühne trinken muss. Sauer auf sie, waren einige: Johannes Lange (Robert Kuchenbuch), dem sie den Laufpass gab, Stella (Luzia Oppermann), die gern ihre Rolle in Tschechows „Die Möwe“ gehabt hätte, selbst die große Rohland sah möglicherweise „die aufsteigende Konkurrenz“ in Nora. Aber sind das Mordmotive?
Foto: BR / Claussen + Putz / Walter Wehner
Schon einige Male tummelten sich „Tatort“-Kommissare am Theater. In „Alles Theater“ (SFB, 1989) mit Heinz Drache und „Bei Auftritt Mord“ (MDR, 1996) ging es altbacken zu, „Babbeldasch“ (SWR, 2017) war ein weitgehend gescheiterter Impro-Krimi, allein Dani Levys Schweizer Konzerthaus-Whodunit „Die Musik stirbt zuletzt“ (SRF, 2018), zudem ein One-Shot-Movie, wusste zu überzeugen. Auch die Münchner Kommissare schnupperten schon einmal, in „Aida“ (1996), Theaterluft, genauer gesagt Opernluft, das war launig, ein bisschen satirisch, allzu authentisch wirkte das Künstler-Milieu unter der Regie von Klaus Emmerich allerdings nicht. In „Das Verlangen“ werden die Leidenschaften, die Eifersüchteleien und ständig wechselnden Affären weniger ironisch überhöht. Augenzwinkernd sind eher die Kommentierungen der Kommissare. Immer wieder muss Leitmayr seinen Kollegen daran erinnern, dass am Theater jeder was mit jedem hat. Ein Naturgesetz, der Franz muss es wissen, der hatte mal was mit einer Schauspielerin. In diesem „Tatort“ von Andreas Kleinert (Regie) und Norbert Baumgarten & Holger Joos (Buch) bleibt Mord das, was es ist: eine ernste Sache. Die Schauspieler und Theaterangestellten berührt der Tod der Kollegin, nur widerwillig beugen sie sich der autoritären Intendantin: The Show must Go on. Und als sich herausstellt, dass sich unter ihnen ein Mörder befindet, trägt das auch nicht gerade zur Aufhellung der Stimmung bei. Also müssen die Kommissare für etwas Erheiterung sorgen. So verlaufen sie sich ständig in den gar nicht so heiligen Hallen des Resi („Wer hat dieses Theater gebaut? Kafka?“) oder schnaufen zur Probebühne im sechsten Stock hinauf: Das Theater, ein Irrgarten, das spiegelt auch die Ermittlungen. Und Hammermann (Ferdinand Hofer) muss mal wieder den Kalli geben. Wenn es heißt, „jemand sollte“, dann muss er die unliebsame Aufgabe übernehmen.
Es sind vor allem die Dialoge, die abseits der Ernsthaftigkeit der Mordermittlungen Spaß machen. Da ist viel Selbstironie und Selbstreferenzialität im Spiel. So äußert sich Leitmayr über die Schauspielerin, mit der er eine wenig erfreuliche Beziehung hatte: „Das war eigentlich gar keine richtige Schauspielerin; die hat nur Fernsehen gemacht.“ An anderer Stelle geht es um die Austauschbarkeit im Beruf und in der Liebe. Johannes Lange, der Rohland für Nina verlassen hatte, um wenig später umgekehrt von ihr abserviert zu werden, sinniert in Richtung der Kommissare: „Wahrscheinlich geht’s Ihnen ja gleich. Wenn Sie aufhören, irgendwann Mörder zu suchen, wird’s irgendjemand anders tun – und keinen interessiert’s.“ Miroslav Nemec und Udo Wachtveitl haben 2026 noch zwei letzte „Tatorte“ vor sich. Schau ma moi. Dass sie sich auf der Zielgeraden schauspielerisch neu erfinden, war nicht anzunehmen; dafür steckt auch ihr Ermittlerduo über Jahre zu sehr in einem festen Korsett. Andere dürfen dafür umso mehr brillieren, fast alle haben Theatererfahrung. Giulia Goldammer und Liane Amuat spielten am Resi, Robert Kuchenbuch unter anderem am Schauspiel Stuttgart, und Ursina Lardi ist seit 2012 das weibliche Aushängeschild des Berliner Ensembles. Die Schauspielerleistungen sind durchweg ganz vorzüglich. Aber Lardi stellt einmal mehr alle in den Schatten. Sie macht sie es auf die moderne Tour, spielt mit Understatement, Ironie, ohne Grande-Dame-Allüren. „Ich hab das Gefühl, Sie mögen mich irgendwie nicht.“ Es ist bei Leitmayr nichts Persönliches: „Das hat vielleicht mit Ihrem Beruf zu tun. Ich treffe so viele Menschen, die mir irgendwas vorspielen. Mein Bedarf ist gedeckt.“ Es könnte aber auch eine Selbstschutzmaßnahme sein. Diese Gina Rohland ist schon der Hammer. Lardi spielt sie weniger expressiv als ihr Namensvorbild, Schauspiel-Ikone Gena Rowlands, macht ihr aber dennoch alle Ehre.
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Baumgarten, Joos und der besonders theateraffine Kleinert nutzen die Einheit von Raum, Zeit und Handlung zu einem dichten Kammerspiel, das auch filmisch überzeugt. Mal gibt es Bühnen-like Menschen vor schwarz, mal Bilder mit Weitblick und viele Großaufnahmen, in denen sich die ganze Klasse der Schauspieler*innen zeigt. Die Kommissare betreten nach elf Filmminuten jene ihnen fremde Welt des Theaters. Wie zwei Kleinwüchsige in einem kafkaesken Fantasyfilm öffnen sie das schwere, Riesentor, um sich als erstes die institutionsüblichen Klischees der Intendantin anzuhören, von „Wir sind eine Familie“ bis „Sie hätte es so gewollt“. Dann geht es kreuz und quer durch die diversen Räume des Theaters, um die Mitwirkenden zu befragen. Krimi-Routine ist das nicht, dafür wechseln zu rasant die Befragten, gibt es zu perfekt eingeschnittene Flashbacks, und dass Mördersuche und Theaterproben gleichzeitig stattfinden, ja, sogar am Abend während der Vorstellung ermittelt wird, geben dem Ganzen nicht nur Tempo, sondern sorgen auch für kleine Irritationen. Nicht immer weiß man als Zuschauer, ob die Sätze der Schauspieler den Kommissaren gelten oder ob es Zitate aus dem modernisierten Tschechow-Stück sind. Aber auch bei anderen Interaktionen verschwimmen die Befindlichkeiten der Schauspielerfiguren mit ihren Bühnen-Alter-Egos. Wenn der Regisseur, den der Liebhaber-Schauspieler Carl Silberman (Lukas T. Sperber) gerade noch beleidigt hat („Du bist doch nur am großen Haus, weil du schwul bist – und Türke“), ihn angeht mit den Worten, dass er von Carls Figur, „einem hübschen, gottverdammten Niemand“, endlich mehr sehen möchte, „sein kleines, weißes, langweiliges, privilegiertes, reiches Scheißleben“, meint er damit natürlich auch Carl, den er absurderweise begehrt.
Irgendwann fällt auf der Bühne ein Schuss. Für Tschechow nicht ungewöhnlich. Doch ähnlich wie sich bei Noras Tod das Saalpublikum im Theater wähnte und anfangs wenig irritiert zeigte, so ist man vor dem Fernseher „Tatort“-Zuschauer und zuckt erst einmal zusammen. Noch ein Mord auf der Bühne? Es wäre der dritte. Es gab ja bereits einen ersten, vor einem halben Jahr: Eine Schauspielerin hing vom Schnürboden. Hat dieser Tod auch etwas mit dem Mord an Nora zu tun? In einer 12-minütigen Enthüllungsszene, stilvoll auf der Bühne, fassen die Kommissare vor versammelter Mannschaft den Fall zusammen – mit kurzen Rückblenden und emotionalen Einlagen der Verdächtigen. „Eine gute Vorstellung“, lobt am Ende nicht nur der charismatische Star. So macht Whodunit Spaß: klar, konzentriert, klug konstruiert als Interaktionsraum statt als Schaulaufen der üblichen Verdächtigen. Der „Tatort“ endet mit einer Werbung fürs Theater und einer in eigener Sache. Lange wendet sich noch einmal an die Kommissare: „Vielleicht hab‘ ich falsch gelegen, vielleicht werden die Leute Sie doch vermissen, wenn Sie irgendwann nicht mehr da sind.“
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