In den frühen Neunzigern waren sie eine Clique. Heute stehen sie unter Mordverdacht – und sind sich fremd
Auf dem Colonius, dem Herzstück der Kölner Telekommunikation, pulsierte einst der Techno-Zeitgeist. Ecstasy, Party, Sex – in einer Nacht im November 1993 war der Traum vom ewigen Rave ausgeträumt. Für eine Clique wurde die letzte Sky Dance Party zum Albtraum. In dieser Nacht verschwand Gina (Emma Bading), ein begehrtes Party-Girl. Die 22-Jährige, gerade Mutter geworden, haderte mit dem Gedanken, ein Kind großzuziehen, und hat sich offenbar aus dem Staub gemacht. Sie hatte die Gruppe um ihren Freund Christian (Joshua Hupfauer), ihre beste Freundin Meike (Sinje Irslinger) und Jungspund René (Sebastian Schneider) zusammengehalten. Mit Ginas Verschwinden brach die Clique auseinander. Nach über dreißig Jahren sind die drei unfreiwillig wiedervereint – zuerst bei der Beerdigung der Colonius-DJane, danach in den Räumen der Mordkommission. Der Fotograf und Dealer, der einst die Clique mit Pillen versorgte, ist ermordet worden. Nach der Trauerfeier hat er vier Namen gegoogelt: Christian Kohlheim (Thomas Loibl), Meike Bennis (Karoline Eichhorn), René Horvath (Andreas Pietschmann) und Svenja Kohlheim (Vanessa Loibl). Für Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk (Dietmar Bär) besteht kein Zweifel, dass einer der Vier der Mörder sein muss. Doch was hat der Tod des Dealers mit den Ereignissen in jener November-Nacht zu tun, in der es am Colonius auch noch zu einem perfiden Akt von Brandstiftung kam?
Foto: WDR / Sandra Stein
Soundtrack: Psycho Punkz („Play the Drum“), Westbam feat. Marusha („The Mayday Anthem“), U96 („Das Boot“), The Prodigy („Out of Space“), Aimée Mann („Wise Up“)
Man erfährt viel über das Trio, bekommt aber keine ultimativen Aufschlüsse darüber, wer den Mord begangen hat
Nach „Siebte Etage“, dem Prostituierten-„Tatort“ aus dem November letzten Jahres, hat das Autorenduo Eva Zahn und Volker A. Zahn das nächste Drehbuch zu einer außergewöhnlichen Episode vorgelegt. Nicht das übliche Abarbeiten möglicher Verdächtiger, keine falschen Spuren, kein Business-as-usual-Krimi. Der „Tatort – Colonius“ versetzt seine Charaktere in eine Käfigsituation. Die Verdächtigen werden auf dem Kommissariat „festgehalten“. Juristisch haben Ballauf und Schenk zwar keine Handhabe, aber sie geben den Befragten immer wieder gute Argumente dafür, doch besser zu bleiben. Die Drei aus der Clique von 1993 muss man im Dreierpack bearbeiten, das merken die Kommissare schnell. Beim zweiten Vernehmungsmarathon beobachten sie das Trio durch eine Jalousie, versuchen, etwas Verdächtiges in ihrem Verhalten zu erkennen, bevor sie zu den Einzelgesprächen kommen. „Warum bestellen die uns gleichzeitig, wenn sie nacheinander mit uns reden?“, fragt sich denn auch Karoline Eichhorns Figur, damals wie heute eine Frau, die lieber zuschaut, als im Fokus zu stehen. Und so lässt sie denn auch die Männer – ein dramatischer Höhepunkt des Films – aufeinander losgehen, während sie genüsslich an ihrer E-Zigarette zieht. Aber auch sie kommt an die Reihe. Das ist die besondere Stärke dieses Krimi-Dramas: Man erfährt nach und nach viel über die Clique, die Rollenverteilung, die Spannungen, die Anziehung, die Verwerfungen; und doch gibt dies alles keine ultimativen Aufschlüsse, was den Mord angeht. Verdachtsmomente gibt es gegen jeden.
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Dem sexuellen Hochgefühl, dem Drogenrausch folgt der Niedergang: Vom Dach geht’s ins Kellergeschoss
Diese Ermittlungsmethode lässt auf ein strenges Kammerspiel wie in „Siebte Etage“ schließen. Konzentriert erzählt ist auch „Colonius“, doch der Film von Charlotte Rolfes („Wer wir sind“) ist ungleich atmosphärischer, wilder und filmisch aufregender. Dieser Effekt ergibt sich durch die Ereignisse von 1993, die sehr gut als eigene Erzählebene funktionieren. Das sind keine gewöhnlichen, ausschnitthaften Rückblenden. Da wird vielmehr die Chronologie der schicksalhaften Nacht nachgezeichnet. Eine Schlüsselszene um Ginas Haare, die sie sich an jenem Abend zu einem Zopf geflochten hat, wird unterschiedlich erinnert. Schlechtes Gedächtnis? Schlechtes Gewissen? Oder Verdrängung? Wer hat wann diesen Zopf abgeschnitten? Anhand von Fotos („Blow up“ lässt ein bisschen grüßen) können die zeitlichen Abläufe genauer bestimmt werden. Ähnlich wie heute auf dem Kommissariat sind die drei Verdächtigen plus Gina in einem Raum gefangen: der Colonius-Rave, eine Amphetamin-geschwängerte Blase, ein Rausch, aus dem es kein Entkommen gibt. Dem sexuellen Hochgefühl folgt der Niedergang. Das spiegeln auch die Schauplätze: erst das erhebende Gefühl auf dem Dach des Colonius (auch „Eldorado KaDe-We“ hat mit der Metapher gespielt), dem Himmel noch näher als die tanzende Menge, dann Stunden später die private Party im düsteren Kellergeschoss des Kölner Wahrzeichens.
Der Reiz des Wechselspiels: Sinnlichkeit 1993, Strategie 2024 & das Wissen, dass etwas in der Luft liegt
Die Zahns und ihr beziehungsstarkes, klug konstruiertes und dichtes Drehbuch finden in Regisseurin Charlotte Rolfes ihre Meisterin. Die Einstiege in einen „Tatort“ sind heute selten gewöhnlich. Aber dieser hier hat es in sich. Köln leuchtet verführerisch. Sexuelle Höhepunkte auf dem höchsten Turm der Stadt, der vom Kamerablick erklommen wird wie ein gigantischer Vergnügungspark-Koloss. Es folgt der Katzenjammer – und mit ihm fährt die Kamera abwärts in eine weniger euphorische Zeit, „über 30 Jahre später“, verrät ein Insert. Die Erzählung von 1993 ist aufgeladen mit Drogen und Hormonen, mit 140 bpm, mit Sex und Ekstase, aber auch mit Wut, Ekel und Missgunst. Sinnlichkeit, Partystimmung und das Wissen, dass hier etwas in der Luft liegt, machen den Reiz dieser Szenen aus, die vorzüglich inszeniert sind. Aber auch die Befragungen leben nicht allein vom Dialog, den überraschenden, von leiser Ironie begleiteten Fragen, den beiläufig gestellten Fallen und dem Anschwärzen des anderen. Evident ist auch der kreative Umgang mit den Räumen und Glasflächen, mit Konstellationswechseln, mit Gesichtern, mit Blicken, mit Fotos und Beweismitteln, die groß ins Bild gerückt werden. Bis die bereits erwähnten Testosteron-Bomben hochgehen, besitzt das Befragungsszenario bei aller Dramatik auch etwas Verspieltes: Mal sehen, wer wohl als erster in eine Falle tappt. Dramaturgie und filmischer Flow bilden eine Einheit, die ihresgleichen sucht.
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Perfekte Besetzung beider Zeitebenen – und der Ruf nach Standbild. Was hat „Colonius“ mit „Magnolia“ gemeinsam?
Ein ganz dicker Pluspunkt: Beide Zeitebenen sind gleichermaßen perfekt besetzt. Die Gegenwart mit Thomas Loibl, Karoline Eichhorn und Andreas Pietschmann etwas namhafter – ihre Charaktere müssen schließlich auch dem Verhörmarathon standhalten. Bei ihnen steht die Existenz auf dem Spiel, während die Jugend noch nicht im Ernst des Lebens angekommen ist. Bei Gina & den anderen geht es um Eitelkeiten, Kränkungen und vor allem um den eigenen Narzissmus. Das machen alle Beteiligten gut, und Emma Bading als das Girlie, das alle begehren, agiert einmal mehr herausragend. Glaubwürdig auf Droge spielen und gleichzeitig viel vom Innenleben seiner Figur preiszugeben, ist keine leichte Übung. Auch Vanessa Loibl steht ihren erfahrenen Kollegen in nichts nach. Wenn die Kamera auf ihr Gesicht hält, kann einem in Kombination mit dem, was sie und wie sie es sagt, der Atem stocken. Ihre Svenja Kohlheim ist die tragische Figur der Geschichte.
Visuell atemberaubend ist neben den Colonius-Bildern anno 1993 auch eine Szene, in der Ballauf und Schenk 2024 in der leeren Kult-Location stehen, im Hintergrund das Panorama von Köln. Die beiden sind sich mal wieder nicht einig. Eine Situation, die in einem anderen Ambiente etwas Klischeehaftes hätte bekommen können: moralische Entrüstung vs. vernünftig die Verhöre fortsetzen. Im Anblick des Doms sagt man sich: So sind sie eben, die Kölner Kommissare. Die Inszenierung macht also aus diesem Disput eine Art Meta-Szene. Und immer wieder könnte man in diesem „Tatort“ Standbild rufen. Die Schlusssequenz ist besonders grandios: In Anlehnung an den legendären Froschregen aus dem Kinofilm „Magnolia“ (1999) lässt Rolfes Ginas Zöpfe regnen. Dazu gibt es eine weitere Reminiszenz an Paul Thomas Andersons Arthouse-Perle, den Song „Wise up“ von Aimee Mann, der auch der musikalische Höhepunkt in „Magnolia“ ist.
Foto: WDR / Sandra Stein


4 Antworten
Rundum gelungen.
5 Sterne
Ein typisch mittelmäßiges Produkt aus der Drehbuchfabrik der Eheleute Zahn. Einzig die gut gespielte Szene, wo Jütte während der Schlägerei seinen Monitor rettet, lässt einen aus der Lethargie erwachen. 3,5 Sterne
Wow, wirklich stark, hat mir sehr gut gefallen. Toll gespielt!
Ja, volle Zustimmung. Ein wirklich sehr guter Kölner TATORT, auch mit einer cleveren Columbo-liken tricky Auflösung, bei der sich der Täter (genderneutral) – passend zum mittlerweile Social-Media- Zeitalter – am Ende selbst überführt. 6 Sterne.