Eine kalte Mietwohnung. Die rote Kuss-Couch steht mitten im Raum. Gestern noch Schauplatz einer Gang-Bang-Party, am frühen Morgen ein Tatort. Die ermordete Gastgeberin wird bereits obduziert, da nimmt Kommissar Borowski (Axel Milberg) zögernd auf dem Polster Platz. Per Knopfdruck senkt er die Rollos herab, künstliches Licht taucht den Raum in sattes Rot, die Musik beginnt. Mia fragt, wie weit willst du gehen. Borowski bleibt sitzen und spürt nach. Monsieur Hulot in der Mietskaserne. Was waren hier für seltsame Menschen? Ein Mörder muss unter ihnen gewesen sein. Aber es gibt nichts zu sehen. Die Szene steht exemplarisch für den Fall. Sex-Sucht steht drauf, aber Voyeurismus wird nicht bedient. Stattdessen rücken die Folgen der Sucht ins Bild: Einsamkeit, gewollter Schmerz, Abhängigkeit zu Menschen und Substanzen.
Foto: NDR / Thorsten Jander
Laura Balzer in der Rolle der einsamen Nele Krüger übernimmt. Die lebensmüde junge Frau hat das Mordopfer Andrea Gonzor bewundert. Die beiden haben sich in der Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige kennengelernt. Seit Andreas Tod fühlt sich Nele verloren. Sie beginnt wieder zu trinken, zu ritzen, zu ficken ohne Gefühl. Die Panik von Nele Krüger begleitet sie wie ein zu schneller Herzton aus dem Unterleib einer Schwangeren. Um diesen Ton zu überhören, duscht sie eiskalt, haut sich einen Tacker in den Oberarm und lacht über den Schmerz. Borowski gegenüber macht sie erst auf Opfer und wird – als sexsüchtig geoutet – zur Herausforderung. „Stalking ist ein Straftatbestand“, warnt er sie. Es wird nicht helfen.
Während sich zwischen dem Kommissar und dem Mädchen nichts zum Guten entwickelt, übernimmt die erwachsene Frau an Borowskis Seite die Ermittlungen. Eine erste Spur führt Mila Sahin (Almila Bagriacik) zum Treffen eines Outdoor-Swingerclubs. Um auch Sahin, nicht über den Dingen stehend, durch den Fall zu führen, fädelt Drehbuchautorin Katrin Bühlig eine Backstory ein, in der Sahins ehemaliger Lover aus Berlin in Kiel auftaucht und ihr seine Liebe gesteht. Klingt romantisch, ist es aber nicht. Die Dialoge zwischen Sahin und Juri Rodinski (Robert Finster) fallen schön knapp und ironisch aus. Aber: Auch diese Beziehung ist im Ungleichgewicht. Während Sahin und ihr Ex im Regen stehen, löffelt Borowski mit Freund und Kollege Schladitz (Thomas Kügel) das Gulasch direkt aus dem Bräter. Sublimiert lässt sich Lust besser genießen.
Die Farben der Lust setzt Regisseurin Maria Solrun dramaturgisch wohldurchdacht. Rot, wo Lust zelebriert wird, blau, wo sie erstirbt, giftgrün, wo es toxisch zugeht. Die Farbe ist immer ein deutlicher Guide. Die Wände in Neles Wohnzimmer sind grün tapeziert. Ihrem Gast serviert sie Spinat. Die Signalfarben aus Innenräumen setzen sich an einigen Schauplätzen auch außen fort. Das Rot-weiß aus dem Appartement des Mordopfers spiegelt sich in der rot-weißen Fassade des Häuserblocks. Ganz klein steht Kommissar Borowski davor.
Foto: NDR / Thorsten Jander
So deutlich die farbigen Setzungen, so trübt sich das Auge gern dort ein, wo der Zuschauer (im Film und vorm TV-Gerät) genau hinsehen will. Wenn das Ehepaar von nebenan (Lina Wendel, Martin Umbach) durch den Tür-Spion lugt, verziehen sich die Perspektiven. Kein Blick kann angelaufene Autoscheiben durchdringen, durch das Kristallglas von Borowskis Badezimmertür „zerfällt“ das Bild. Statt Durchblick nur einzelne Lichtpartikel. Wo die Kamera (Birgit Gudjonsdottir) keine klaren Bilder findet, bleibt sie immer in Bewegung und unternimmt Streifzüge durch unbekanntes Terrain.
Wo der Blick das Geschehen eher verrätselt, verrät die Audio-Spur mehr. Wer genau hinhört und kombiniert, kommt etwa 20 Minuten vor Borowski drauf. Da haben die Ermittler endlich alle Klarnamen beisammen und die Bilder aus der Überwachungskamera liefern wichtige Details. Der Recherchefortschritt wird in diesem Borowski-Fall brauchbar passend zum Spannungsverlauf eingefädelt. Ein Manko, das nicht weiter ins Gewicht fällt, weil der Fall sowieso mehr erzählt als es ein reiner, auf Spannung setzender Whodunit tut. Ohne vorschnelle Einteilung in Opfer und Täter bleibt er nah bei den hungrigen Herzen, die sich im Finale in einer dynamisch geschnittenen Montage einzelner Verhör-Situationen mehr als Menschen, denn als Monster outen. Für individuellere Charakterzeichnungen fehlt am Ende die Zeit. Auch das ist verschmerzbar. Der Fall lebt von seinem Tempo und Schnitt. „Tatort – Borowski und das hungrige Herz“ ist die letzte Arbeit der 2023 verstorbenen Uta Schmidt.
2026 wird Schluss sein mit „Borowski und…“. Nach 40 Episoden muss sich die Redaktion neue Titel überlegen. Seit seinem Debüt 2003 hat der gebürtige Kieler Axel Milberg die Figur Borowski vom teamunfähigen Soziopathen zum altersweisen Kommissar gedreht. Neugierig, melancholisch und weich fand er mehr Fans. Großen Anteil an diesem Wandel tragen Frieda Jung (Maren Eggert), Sarah Brandt (Sibel Kekilli) und Mila Sahin (Almira Bagriacik) an Borowskis Seite. Die Abschiedsvorstellung hat ihm Drehbuchautor Sascha Arango („Borowski und der stille Gast“, 2012) auf den Leib geschrieben. Auch „Tatort – Borowski und das Haupt der Medusa“ (Regie: Lars Kraume) ist schon im Kasten. Dürfte eine Krimi-Praline sein…