Eine verzweifelte Tochter und eine Mutter, die keinen Rat geben kann. Der Dialog eines Video-Chats nimmt vorweg, womit wir es in diesem „Tatort“ zu tun bekommen. Unerschütterliche „gewachsene“ Familienverhältnisse gibt es hier nicht. Immer ist das Kind Stieftochter oder -sohn, das erwachsene Gegenüber der neue Freund der Mutter oder die zweite Frau des Vaters. Autor Harald Göckeritz macht in seinem 15. Tatort-Drehbuch (zehn davon allein für Lena Odenthal) kein Drama daraus. Er spielt nur geschickt mit den Klischees von Eifersüchtelei und Besitzansprüchen. Tatsächlich zerstört hat die Eifersucht das Glück der 13jährigen Sina. Seit Marie (Leni Deschner) mit Tom (Caspar Hoffmann) zusammen ist, hat sie ihre beste Freundin und ihre erste große Liebe zugleich verloren. Das ist, was wir über das traurige Gesicht auf dem Laptop erfahren. Fortan heftet sich die Kamera an Sinas Stiefmutter Julia da Borg (Bernadette Heerwagen). Nach dem ersten Leichenfund am Rheinufer steht die Kripo vor ihrer Tür. Julia war zur Tatzeit am Fluss joggen, eine Kamera hat sie eingefangen. Bezeugen will sie nichts, aber Kommissarin Odenthal (Ulrike Folkerts) misstraut der Frau, die aussieht „als habe sie seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen“.
Foto: SWR / Christian Koch
Schon wenige Filmminuten später verabschiedet sich „Tatort – Avatar“ mit dem Zusammenschnitt der zweiten Mordtat vom Whodunit-Krimi. Den Kommissarinnen einen Schritt voraus, sucht der Zuschauer ab jetzt keinen Mörder, sondern ein Motiv. Wie manch andere Information versteckt sich das Motiv in einem Chat-Verlauf. Wird hier dramaturgisch allzu viel an den PC-Bildschirm delegiert? Nein, denn genau darum geht es: Der Fall reflektiert die Möglichkeiten, die das Netz und neue digitale Techniken bieten, um im Unglück der wahren Welt zu entfliehen. Ein Reflex, der Verbrechen möglich macht und jungen Menschen wie der enttäuschten Sina zum Verhängnis werden kann. Julia wiederum, als Programmiererin technisch versiert, weiß die neuen Wege für ihre Zwecke zu nutzen. Die Palette der Möglichkeiten reicht von Trost über Verlust bis zur perfekten Tarnung einer Rache.
Im letzten Drittel des Films verschränkt Regisseur Miguel Alexandre („Der Mann mit dem Fagott“, „In Wahrheit“) die etablierten Erzählstränge, die jetzt auch dem Erkenntnisstand der Kommissarinnen entsprechen. Auch Odenthal und Stern (Lisa Bitter) wissen inzwischen, warum Julia da Borg mit einem gefährlichen Tunnelblick durch die Welt geht. Anders als in ihren humorvollen Rollen („München Mord“) verkörpert Bernadette Heerwagen eine verzweifelte Frau, deren Tragik sich in einem Beinahe-Suizid und in der letzten Wendung am Tatort Nummer drei manifestiert. Eine bewegende Szene zuvor macht klar, dass sich die Chat-Bot-Expertin durchaus bewusst ist, in welcher Welt sie sich jeweils bewegt.
Foto: SWR / Christian Koch
Auch Regisseur Alexandre weiß die erzählerischen Mittel verschiedener Welten zu nutzen. Innen, vor Bildschirm oder Smartphone wie in den Texteinblendungen aus Chats, bieten geschriebene oder hastig gelöschte Zeilen die Möglichkeit zur Innenschau. Sekundenschnell vermitteln sich in solchen Szenen, was im Absender vorgeht. Draußen, an den Tatorten zieht die Dynamik deutlich an. Menschen laufen durchs Bild, Musik und ein immer wiederkehrender Song („Leave this World“, David Alex & Scoop Monty) unterstützen den beschleunigten Puls. Wie in einigen Arbeiten zuvor stand neben DOP Cornelia Janssen auch Alexandre selbst hinter der Kamera. Übertrieben wirkt dabei nichts, jeder Schwenk hat seinen Sinn. Auf die Hauptfigur konzentriert, arbeitet Alexandre in der Bildgestaltung auch mit kippenden Achsen. Sie visualisieren, wie die Welt rund um Julia da Borg aus den Fugen gerät.
Ein Autor, der die DNA des Ludwighafen-Teams mitgeschrieben hat, dazu ein Regisseur, der dessen Handschrift so gut kennt wie die Arbeit der Filmeditorin, dazu hinter und vor der Kamera, zwei, die sich seit einem gemeinsamen Abschlussfilm an der Münchner Filmhochschule kennen. Vertrautheit am Set macht nicht automatisch gute Filme. Es macht sogar öfter schnöde Routine. Bei diesem „Tatort“ überwiegt jedoch der Eindruck, dass hier jeder wusste, was zu tun ist und diese Form des Vertrauens Übertreibungen oder unnötige Spielereien weitgehend verzichtbar machte. Nur wenig wirkt, wie die Bondage-Kammer in einer Fabrikruine, gewollt oder aufgesetzt. Im Gegenteil: Die Gelassenheit vermittelt sich bis in die Anlage der Nebenrollen. Selten kamen jugendliche Protagonisten so unprätentiös daher wie in diesem Fall und selten machen angehende Pensionäre mit kurpfälzischem Dialekt (Peter Espeloer als Kriminaltechniker Becker, Annalena Schmidt als Assistentin Keller) so wenig Aufheben um ihren Abschied. (Text-Stand: 9.12.2023)