Tatort – Amoklauf

Krug, Brauer, Lohmeyer, Werner Masten. Harter Tobak aus den frühen Neunzigern

Foto: NDR
Foto Tilmann P. Gangloff

Obwohl dieser NDR-„Tatort“ aus dem Jahre 1993 verblüffend aktuelle Themen wie Ausländerfeindlichkeit, politische Verfolgung und Menschenschmuggel behandelt, ist „Amoklauf“ in erster ein fesselnder Thriller: Ein ausgebildeter Einzelkämpfer ist überzeugt, seine kurdischen Schwager hätten seine kleine Tochter entführt, und zieht eine blutige Spur durch die Stadt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Krimis mit Manfred Krug und Charles Brauer verzichtet der Film von Werner Masten („Liebling Kreuzberg“) komplett auf die üblichen Heiterkeiten; statt dessen fordert die Geschichte ein überraschendes Opfer.

Über zwanzig Jahre ist dieser „Tatort“ alt, aber einige Sätze sind von beunruhigender Aktualität; und das keineswegs nur in Bezug auf die Türkei, die in den Dialogen als Staat beschrieben wird, in dem man der Willkür der Behörden ausgeliefert ist. In einer Szene will eine deutsche Frau ihren kurdischen Freund Messud (und Vater ihres ungeborenen Babys) dazu überreden, sie endlich zu heiraten und somit die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen, doch der Mann möchte nicht in einem Land leben, in dem die Menschen „Ausländer raus!“ an die Wände schreiben; und er will keinen Schwiegervater bekommen, der Angst hat, dass Messud ihm etwas von seinem Reichtum wegnimmt.

Obwohl es außerdem noch um eine Schlepperbande geht, ist „Amoklauf“ kein Themen-„Tatort“, sondern ein Thriller, der selbst nach heutigen Maßstäben ziemlich spannend ist. Hauptfigur ist ein alleinerziehender Vater, Brandner (Peter Lohmeyer), der im Auftrag eines Unternehmers Kurden aus Dänemark nach Deutschland schmuggelt. Beim jüngsten Transport stirbt ein Mann an einer Herzattacke. Dank eines Tipps der türkischen Polizei kann die Abteilung Wirtschaftsdelikte der Hamburger Polizei den Drahtzieher (Werner Tietze) und seinen kurdischen Mitarbeiter Messud Baran (Hussi Kutlucan) festnehmen; wegen des Toten kommt zudem die Mordkommission ins Spiel. Zum Thriller wird der kurz vor Weihnachten spielende Film, als kurz drauf Brandners sechsjährige Tochter entführt wird: Er ist überzeugt, dass Messud und sein Bruder Levent dahinterstecken; Messud hatte ihn für den Tod des Kurden verantwortlich gemacht. Zusätzlichen Reiz bekommt die Konstellation, weil Brandner mit den Barans verschwägert ist: Seine verstorbene Frau war ihre Schwester; die Brüder wollen, dass die kleine Aische in Levents Familie aufwächst. Als Brandner Messud zur Rede stellt, wird der Kurde erschossen. Die Polizei glaubt natürlich, dass der wütende Brandner, ein ausgebildeter Einzelkämpfer, zum Mörder geworden ist, und bringt Levent in einem Hotel unter. Als kurz drauf auch noch das Auto von Familie Baran explodiert, sind die Kommissare Stoever (Krug) und Brockmöller (Brauer) erst recht überzeugt, dass ein rot sehender Vater Amok läuft. Viel zu spät wird Stoever klar, dass hier ganz andere Mächte am Werk sind, aber da hat der clevere Brandner längst herausgefunden, wo die Polizei den Bruder versteckt.

Gerade die ausführliche Hotelpassage ist dem Südtiroler Werner Masten, der in späteren Jahren viele Filme mit Ottfried Fischer als „Bulle von Töz“ gedreht hat, außerordentlich gut gelungen, obwohl der Regisseur auf übliche Spannungsverstärker wie etwa rasche Schnitte verzichtet. Musik, in „Amoklauf“ ohnehin äußerst sparsam eingesetzt, gibt es in diesen Hotelszenen überhaupt nicht; die Bedrohungssituation genügt. Das funktioniert allerdings nur, weil das Drehbuch die Polizei zuweilen reichlich amateurhaft agieren lässt: Bei einer Fahrzeugkontrolle muss Brandner bloß den Kranken mimen, um durchgewunken zu werden. Und obwohl später rund um das Hotel höchste Alarmbereitschaft gilt, lässt die Wache vor der Eingangstür den bedauernswerten Brockmöller im Stich, um sich was zu essen zu besorgen. Büßen muss das Meyer zwei (Lutz Reichert), der launige Mitarbeiter des Duos, der dem als Weihnachtsmann verkleideten Brandner im Wortsinne ins offene Messer läuft.

Das Drehbuch verzichtet völlig auf die üblichen Schnoddrigkeiten zwischen den beiden Stars; gesungen wird ebenfalls nicht. Spätestens der politische Hintergrund verdeutlicht, dass „Amoklauf“ mehr als nur ein gewöhnlicher Sonntagskrimi sein sollte. Allerdings ist der Film auch ungewohnt drastisch; nach der Ermordung Messuds ist Lohmeyer buchstäblich von Kopf bis Fuß voller Blut. Sehenswert ist der Thriller vor allem wegen Peter Lohmeyer, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gerade mal dreißig, der Brandner zwar jugendlich rebellisch, aber konsequent als Antagonisten verkörpert; sympathisch wirkt der Mann allein beim liebevollen Umgang mit seiner Tochter. Nach dem kaltblütigen Mord an Meyer zwei ist klar, dass die Geschichte kein gutes Ende für ihn nehmen kann. (Text-Stand: 7.10.2016)

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Reihe

NDR

Mit Manfred Krug, Charles Brauer, Lutz Reichert, Peter Lohmeyer, Hussi Kutlucan, Werner Tietze, Wolf Dietrich Sprenger, Suavi Eren, Herbert Weißbach, Janna Striebeck

Kamera: Lothar Elias Stickelbrucks

Szenenbild: Hans Zillmann

Schnitt: Dagmar Pohle

Musik: Klaus Doldinger

Soundtrack: The Kinks („Lola“)

Produktionsfirma: Studio Hamburg

Drehbuch: Dieter Hirschberg – Idee: Asta Scheib

Regie: Werner Masten

EA: 03.01.1993 20:15 Uhr | ARD

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