Dieses Jahr kann sich Liane (Maria Ehrich) noch weniger als sonst auf Weihnachten freuen. Denn es nervt nicht nur die scheußliche Plastik-Deko der Ohlsens (Antoine Monot, Angelika Richter) von nebenan, sondern es blüht auch noch der Ginster. Bei der Klimaforscherin läuten statt der Kirchen- die Alarmglocken. Aber auch ohne Extremwetter ist die Wissenschaftlerin keine Freundin weihnachtlicher Rituale und auch von dem Raunächte-Hokuspokus ihrer Schwester Svea (Victoria Fleer) und deren Lebensgefährtin Ilka (Denise M’Baye) ist sie eher peinlich berührt. Wünsche aufschreiben und sie ins Universum schicken – so ein Blödsinn! Als sich dann aber Philipp (Tim Oliver Schultz), ihr Liebster, wegen Differenzen in Sachen Familienplanung eine Auszeit auf Gomera nimmt, kommt sie ins Grübeln, ob sie mit ihrer pessimistischen Weltsicht und ihrer „Angst, Kinder in die Welt zu setzen“, auf Dauer glücklich werden wird. Mitauslöser für ihre neue Nachdenklichkeit ist Mani (Benito Bause), den sie auf Sveas Wintersonnenwende-Party kennengelernt hat, und der ihr ständig über den Weg läuft. Seine grundentspannte, achtsame Art von Spiritualität hat selbst für Liane etwas Faszinierendes. Seine Anwesenheit wirkt Wunder. Und so wird aus einem vermeintlichen Horror-Weihnachten mit Unwetter und Stromausfall, den Querdenker-Schwiegereltern (April Hailer, Rainer Reiners) und den peinlichen Ohlsens eine völlig neue Erfahrung für sie.
Filmproduktionen, die zur Weihnachtszeit spielen und in denen es gefühlvoll zugeht, inklusive Kindheitserinnerungen und Sehnsuchtsbilder vom Fest der Liebe, haben heutzutage nur selten das Glück, die zum Genre gehörige Stimmung vom Wettergott mitgeliefert zu bekommen. „Stille Nacht, raue Nacht“ kaschiert das fehlende Weiß nicht wie andere Fernsehfilme mit ein paar Kunstflocken, Autorin Silke Zertz und Produzentin Heike Wiehle-Timm machen vielmehr aus der Not eine Tugend, indem sie die Schneelosigkeit zu einem zentralen Motiv der Handlung machen. So muss Regisseurin Sophie Averkamp („Kroymann“) nichts simulieren, was nicht vorhanden ist. Und mehr noch: Die Umwelt-Defizite und sozialen Ängste, die in der Geschichte angesprochen werden, spiegeln sich quasi in den Bildern, die so zur Metapher für den Mangel werden. Dass selbst auf der Zielgeraden für die Momente der Heilung – nicht nur Liane leidet unter schmerzhaften Erfahrungen – auf Besinnlichkeits-Kitsch verzichtet wird, ist ein weiteres Plus dieses etwas anderen „Herzkino“-Beitrags.
Autorin Zertz piekst zwar so gut wie jedes Zeitgeist-Thema (Klimakrise, lesbische Liebe, vegane Ernährung, Prepper, Fake News, Spiritualität) an, aber dies nervt nur selten, weil es zur Figurenzeichnung gehört, es eher beiläufig geschieht und weil es so viele andere Dinge gibt, die ins Bild oder zu Wort kommen. Vor allem aber, weil die beiden Hauptcharaktere die meiste Zeit den Ton angeben – und dieser Ton ist angenehm offen, dem Gegenüber zugewandt und gar nicht so dogmatisch, wie man in den ersten Filmminuten noch annehmen könnte. Trotz des Genres Dramödie nimmt man der Hauptfigur ihre Haltung durchaus ab, da sie nicht als Karikatur geschrieben ist und Maria Ehrich („Ku’damm“) sie bei aller akademischer Strenge warmherzig und sympathisch verkörpert. Auch Benito Bause („All You Need“) ist gut besetzt als in sich ruhender, spiritueller Gegenpol Mani, der zwölf Jahre in Indien gelebt hat. Die Versuche der beiden, miteinander zu kommunizieren, treffen mit wenig Worten ins Schwarze: Ihr „Ich muss…“ kontert er mit „Du musst gar nichts“. Ihre vielen Fragen beantwortet er mit einem warmen Lächeln. Diese Augenblicke seltsamer Zweisamkeit sind die schönsten Momente des Films. Das ist gelebte Lebensphilosophie, ernsthaft menschlich statt oberflächlich menschelnd. Dieser Ton überträgt sich später auch auf die Personen, die Liane eigentlich unerträglich findet und die auch für den Zuschauer bisher nur unterhaltsame Zerrbilder waren. Sie alle haben gute Gründe dafür, dass sie so sind, wie sie sind.
Foto: ZDF / Andrea Kueppers
Soundtrack: Judy Garland („Have Yourself A Merry Little Christmas“), Jonas Brothers („Like It’s Christmas“), Frank Sinatra („Let It Snow“), Gipsy Kings („Un Amor“), Kodaline („All I Want“), Maria Carey („All I Want For Christhmas Is You“), José Feliciano („Feliz Navidad“), Violent Femmes („Blister In The Sun“), Ella Fitzgerald („Santa Claus Got Struck“), Danger Dan („Eine gute Nachricht“), Tears for Fears („Mad World“)
Unterm Strich ist „Stille Nacht, raue Nacht“ wie alle ZDF-Sonntagsfilme unter dem „Herzkino“-Label ein Wohlfühlfilm, allerdings einer, der für mehr Toleranz, mehr Vielfalt im Denken eintritt und der nicht nur dialogreich mit (nicht nur frohen) Botschaften hausieren geht, sondern auch nonverbal/visuell zu sensibilisieren versteht. Nach viel Gerede um nicht nichts wird in der Ruhe die Kraft gesucht. Mani hat Liane zum Leuchten gebracht, und er hat einen Veränderungsprozess in ihr angeschoben: Ihr Wissen um die Welt wird sie sich nicht nehmen lassen, aber wie sie mit diesem Wissen ihr Leben künftig gestaltet, in diesem Punkt hat sie etwas dazugelernt. Dass Mani – besonders in einem Weihnachtsfilm – eine Messias-Figur und kein potenzieller neuer Liebhaber ist, lässt sich früh erkennen und unterscheidet diese nachdenkliche Dramödie deutlich von einer Komödie mit romantischem Flair. Beispielhaft dafür ist die feinsinnige Schlussszene, die weder Liebesglück noch Beziehungs-Zweisamkeit zelebriert, sondern sie gehört der Wissenschaftlerin und dem Meditations-Heiland. Drei Minuten Blicke, Gesten, ein Lächeln, ein sich verstehen ohne ein einziges Wort.
1 Antwort
„So muss Regisseurin Sophie Averkamp („Kroymann“) nichts simulieren, was nicht vorhanden ist.“
Ha, ha, ha, würd ich mal sagen. Das Drehbuch hat sich einen Orkan ausgedacht und die Anzahl der verfügbaren Ventilatoren scheint eher klein.
Auch die Bilder von den dräuenden, pechschwarzen Gewitterwolken passen nicht so richtig in die Landschaft, die eher spätherbstlich-mittelgrau von norddeutschen Lüftchen gestreichelt wird.
Ich hatte mich, der Beschreibung des geschätzten Kritikers folgend, auf einen schönen Film ohne die allgegenwärtigen Bettszenen gefreut, aber das wird mir zunehmend von den schlechten Wettersimulationen versaut.
Ich hab jetzt fast ne Stunde geguckt, aber ich bin nicht sicher, ob ich mir das noch lange antue.