Sterne über uns

Franziska Hartmann, Magno, Baulitz, Breuer, Christina Ebelt. Sozialer Abstieg hautnah

Foto: ZDF / Martin Rottenkolber
Foto Thomas Gehringer

Eine angehende Stewardess lebt mit ihrem neunjährigen Sohn in einem Zelt am Rande der Stadt. „Sterne über uns“ (ZDF, Arte / 2Pilots), das Spielfilmdebüt von Christina Ebelt, erzählt die Odyssee einer alleinerziehenden Mutter, herausragend verkörpert von Franziska Hartmann. Wie den Alltag mit Kind bewältigen, wenn man plötzlich obdachlos ist? Wie mit der Scham und der Verzweiflung umgehen? Der Film passt in die aktuelle Debatte über die Wohnungsnot in den Großstädten, ist aber weder Sozialdrama noch „Themenfilm“. Auch wenn manches Detail unwahrscheinlich erscheint: Ebelt zeichnet das bewegende Porträt einer Frau, die mit beeindruckender Willensstärke um ihr Glück und das Wohl ihres Kindes kämpft. Sie verzichtet dabei auf eine glatt polierte Handlung, in der scheinbar alle Fragen beantwortet werden. Dafür erzeugt die ruhige, unspektakuläre Inszenierung eine große Nähe zu den Protagonisten. Ein „Kleines Fernsehspiel“ des ZDF, das zu entdecken sich lohnt.

Schon die ersten Bilder irritieren: Eine Frau mit Rollkoffer und schickem Outfit – knallblauer Rock, weiße Bluse – bricht irgendwo am Stadtrand stolpernd durchs Gebüsch, an der Hand einen kleinen Jungen. Auf der Toilette im Stadtteilbahnhof wäscht sie sich die Haare. Dann sieht man sie in einem Raum voller Menschen, die ebenfalls knallblaue Klamotten tragen, Berufskleidung also. Einige werden nach vorne gebeten und ausgezeichnet. Melli (Franziska Hartmann), die junge Frau mit Kind und Koffer, ist sogar Klassenbeste und in der Ausbildung bei einer Fluglinie unter die letzten Zehn gekommen. Strahlend nimmt sie die Urkunde und eine Rose entgegen. Nun beginnt allerdings der Konkurrenzkampf in der Probezeit, denn nur fünf werden am Ende übernommen. Und Melli kämpft unter erschwerten Bedingungen: Erregt fordert sie von der Sachbearbeiterin auf dem Wohnungsamt eine Bleibe für sich und ihren neunjährigen Sohn Ben (Claudio Magno). Die Notunterkunft sei der „absolute Horror“. Aber die Stadt hat offenbar keine Wohnung, die ihr zur Verfügung gestellt werden könnte. Stattdessen droht die Dame auf dem Amt, Ben könne in eine Pflegefamilie kommen, bis Melli eine Wohnung gefunden habe – und greift zum Hörer, um das Jugendamt anzurufen.

Sterne über unsFoto: ZDF / Martin Rottenkolber
Camping. Als die alleinerziehende Melli (Franziska Hartmann) und ihr neunjähriger Sohn Ben (Claudio Magno) ihre Wohnung verlieren, ziehen die beiden in den Wald.

„Sterne über uns“ erzählt keine glatt polierte, schön abgerundete Geschichte von A bis Z. Zwar ist der Film in einem ruhigen Tempo und „realistisch“-nüchtern inszeniert. Es gibt auch keine Rück- und Vorblenden oder Traumsequenzen. Aber diese Art Realismus will nicht alle Fragen beantworten, nicht Ursachen und Wirkungen, Schuld und Unschuld sorgfältig abwägen und auch nicht gesellschaftskritisch den Zeigefinger heben. Da muss man manches als gegeben hinnehmen und anderes, was unglaubwürdig erscheint, schlucken. Wie lange lebt Melli mit Ben schon in dem Zelt, versteckt hinter Zweigen irgendwo in einem Wald in der Nähe eines S-Bahnhofs? Warum wurden sie nicht von Freunden oder Verwandten aufgenommen, als Melli die Wohnung gekündigt wurde? Wo ist Bens Vater, von dem nie jemals die Rede ist? Wieso hat Melli einen Schufa-Eintrag? Christina Ebelt pfeift auf Erklärungen en detail, umso genauer beobachtet und schildert sie Charakter und Handlungsweisen ihrer Protagonisten. Sie legt den Zuschauern kein Urteil nahe, aber zeichnet ein intensives, differenziertes Porträt einer alleinerziehenden Frau, die unverhofft in Not geraten ist – und die bewegende Geschichte einer innigen Mutter-Sohn-Beziehung.

Auf keinen Fall darf Ben irgend jemandem verraten, dass sie obdachlos sind. Er freundet sich mit Max an, dem Neuen in der Klasse, bei dem er auch mal übernachten darf. Wenn Melli arbeitet, hält sich Ben bei Anita (Marita Breuer) auf, ihrer ehemaligen Nachbarin. Er ist ein unkomplizierter Junge, der den Ernst der Lage verstanden hat, der studieren, Geld verdienen und seiner Mutter „immer was abgeben“ will. Ben ist ein braves Mittelschichtskind, Melli eine gebildete junge Frau mit guter beruflicher Perspektive – Ebelt hat ihre Geschichte nicht im prekären, „bildungsfernen“ Milieu angesiedelt. Das passt zur vielfach diagnostizierten Sorge der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg und überdies zur aktuellen Wohnungskrise in den Großstädten. Erschreckend, dass eine Stadt (in diesem Fall: Köln) so viele Sozialwohnungen privatisiert hat, dass sie nicht einmal im Fall einer obdachlos gewordenen, alleinerziehenden Mutter helfen kann. Jedenfalls kann man zu diesem Schluss kommen, ohne dass der Film eine explizite Anklage formuliert.

Sterne über unsFoto: ZDF / Martin Rottenkolber
Das Leben unter diesen extremen Bedingungen bringt Melli (Franziska Hartmann) und Ben (Claudio Magno) noch enger zusammen; niemand darf von ihrer Obdachlosigkeit erfahren.

Das Setting hat auch seinen visuellen Reiz, weil der Gegensatz zwischen der perfekten Fassade, die Melli insbesondere auch als Stewardess aufrechterhalten muss, und dem Zuhause im Zelt augenfällig ist. Auf der einen Ebene die professionelle, künstliche Welt, in der jeder Handgriff so perfekt sitzen muss wie die einheitlichen Uniformen. Melli setzt als Stewardess ein fest gefrorenes Lächeln auf und muss auch dann noch höflich bleiben, wenn ein Fluggast eine anzügliche Bemerkung macht. Auf der anderen Ebene das chaotische Leben im Zelt, in dem Frösche herum hüpfen, wenn man es nicht richtig verschließt. Enge, billiges Essen aus der Dose, die Sorge, entdeckt zu werden – die Szenen im Versteck werden nicht als Abenteuerurlaub romantisiert, aber Christina Ebelt erzählt schon, wie die Mutter versucht, ihrem Sohn die Umstände so erträglich wie möglich zu machen: das Plantschen im Bach; der Spaß, einen Schutzwall zu bauen. Die Bedeutung des Bilds vom Leben aus dem Koffer – am Flughafen ein Kennzeichen dynamischer Erfolgsmenschen, die ständig unterwegs sind – wird hier jedoch ins bittere Gegenteil verkehrt.

Melli ist eine jederzeit liebevolle Mutter, verhält sich aber gewiss nicht immer klug. Zuweilen wirkt sie stur und unbedacht, nicht nur gegenüber der Sachbearbeiterin im Wohnungsamt. Empfindlich reagiert sie auf ihre Freundin Nadine (Lucia Schulz), die erst einmal ihren Mann fragen will, ob sie die beiden aufnehmen kann. Im Seniorenheim will sie Geld aus dem Portemonnaie ihrer dementen Mutter (Ursula Michelis) nehmen. Manchmal fragt man sich als Betrachter, was sie davon abhält, die Chance zu mehr Stabilität zu ergreifen, aber eine schnelle Flucht in eine Beziehung – etwa zu Bens sympathischem Lehrer (Kai Ivo Baulitz) oder ihrem Kollegen Sascha (Elias Reichert) – scheint für Melli nicht in Frage zu kommen. Beeindruckend in jedem Fall ihr unbändiger Wille, nicht klein bei zu geben. Doch der Druck ist gewaltig, jede Alltagswidrigkeit könnte sich zu einer Katastrophe ausweiten: Wenn Ben Fieber bekommt. Wenn die EC-Karte gesperrt ist. Wenn sich der Abflug der Maschine in Paris wetterbedingt verzögert.

Christina Ebelt dreht bis zum hochdramatischen Ende sachte an der Schraube, immer wieder kann Melli kritische Situationen mit Glück, Geschick und ihrer Lüge meistern, aber die Stunde der Wahrheit muss zwangsläufig kommen: Melli verschwieg auf dem Amt natürlich, dass sie mit Ben im Zelt lebt, und versprach, erst einmal bei Freunden unter zu kommen. Nun drängt Frau Gerster (Nicole Johannhanwahr) vom Jugendamt auf einen Hausbesuch. Franziska Hartmanns facettenreiches, energiegeladenes, verzweifeltes und zärtliches Spiel ist großes Kino im „Kleinen Fernsehspiel“. (Text-Stand: 26.12.2019)

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Fernsehfilm

Arte, ZDF

Mit Franziska Hartmann, Claudio Magno, Kai Ivo Baulitz, Marita Breuer, Nicole Johannhanwahr, Elias Reichert, Ursula Michelis, Leon Kamps, Demet Fey, Davina Donaldson, Lucia Schulz, Lydia Stäubli

Kamera: Bernhard Keller

Szenenbild: Jochen Dehn, Santiago Alvarez, Lena Sophie Beuth

Kostüm: Eugenia Giesbrecht

Schnitt: Florian Riegel

Musik: Jakob Ilja

Redaktion: Lucas Schmidt, Claudia Tronnier, Doris Hepp

Produktionsfirma: 2Pilots Filmproduction

Produktion: Harry Flöter, Jörg Siepmann

Drehbuch: Christina Ebelt, Franziska Krentzien

Regie: Christina Ebelt

Quote: ZDF: 3,94 Mio. Zuschauer (12,9% MA)

EA: 17.01.2020 20:15 Uhr | Arte

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