Thomas Sieben und Autor Christian Lyra haben sich für die Recherche ihres schwierigen Themas viel Zeit genommen. Sie beschäftigten sich intensiv mit dem Attentat Robert Steinhäusers in Erfurt und konnten Dank der Zusammenarbeit mit Dr. Christian Dossow tiefe Einblicke in das Leben der Hinterbliebenen gewinnen. Eine weitere wichtige Quelle stellt der „Bericht der Kommission Gutenberg Gymnasium“ dar, der die Ereignisse in der Erfurter Schule in trockener Beamtensprechen wiedergibt. Diese nüchterne Auseinandersetzung mit einem stark emotional aufgeladenen Ereignis spiegelt sich in den Gerichtsakten wieder, die Roman in „Staudamm“ im Rahmen seines Nebenjobs einlesen muss. Der Zuschauer wird so nüchtern über den fiktiven Amoklauf informiert. Der Verzicht auf eine weitere Dramatisierung der ohnehin schon dramatischen Ereignisse ist absolut angemessen. Außerdem trägt die Konstruktion der Schwierigkeit, sich einer solch unvorstellbaren Tat anzunähern, Rechnung.
„Langsame Einstellungen, zaghafte Gespräche und ruhige Bilder von leeren Straßen im winterlichen Alpenland, all das fügt sich zu einer fragilen Ruhe nach dem Sturm, die niemanden mehr loslässt.“ (epd-Film)
„Dass Staudamm nicht am Killer klebt, sondern die Folgen seiner Tat zeigt, erweist sich als großer Vorteil. Denn so entgeht er der Faszination, die von den Massenmorden eben auch ausgeht. Wenige Filme befassten sich bisher mit dem Thema, und sie zeigten die Entwicklung hin zur Tat.“ (DIE ZEIT)
Thomas Sieben stattet seinen Protagonisten gerade mit so viel Persönlichkeit aus, dass er überzeugend wirkt und gleichzeitig als Fenster zu den Ereignissen durchlässig bleibt. Der junge Mann lebt selbst zurückgezogen und sozial isoliert. Die Reise zum Tatort stellt eine Art Ausbruch und einen Weg zur Selbsterkenntnis dar. Doch Romans eigene Geschichte dominiert nie die Ereignisse. Er bleibt das Medium, mit Hilfe dessen sich der Zuschauer mit dem Amoklauf auseinandersetzen kann. Weitaus komplexer gestaltet sich die Figur der Laura, die selbst ein Jahr nach dem Ereignis noch mit den Folgen ihres Traumas zu kämpfen hat. Damit widmen sich Sieben und Lyra in ihrem Film weniger dem Attentat als solchem als vielmehr dem Danach und machen deutlich, dass für die Überlebenden und Hinterbliebenen der Albtraum dieses Erlebnisses nicht mit dem Tod des Attentäters endet. Hiermit erinnert „Staudamm“ ein wenig an Lynne Ramsays „Let’s Talk about Kevin“, in dem die Mutter eines Amokläufers die Tat ihres Sohnes zu bewältigen versucht. Indem Thomas Sieben mit Roman und den Gerichtsakten eine distanziertere Perspektive wählt, lässt er dem Zuschauer noch mehr Raum für eigene Überlegungen. Dieser Spielraum aber wird einem am Ende des Films dann durch eine Offenlegung der Motive des Täters wieder genommen. Es wirkt ein wenig anmaßend, dass Sieben und Lyra hier schließlich doch eine Erklärung für das vermeintlich Unerklärliche liefern. So büßt „Staudamm“ einen Teil seiner Überzeugungskraft wieder ein.
Fazit: Thomas Sieben und Christian Lyra gelingt eine sensible und größtenteils glaubwürdige Annäherung an das Phänomen Amoklauf. Die große Ruhe der Erzählung macht „Staudamm“ zu keinem einfachen, dafür aber wertvollen Filmerlebnis. Der ZDF-Kinokoproduktion gewann auf dem Achtung Berlin Festival 2013 den Preis der Ökumenischen Jury. (Text-Stand: 2013)