Richard Brock verschlägt es in den hintersten Winkel von Niederösterreichisch. Ein kleines Mädchen ist entführt worden. Unter dringendem Tatverdacht steht ein ehemaliger Patient des Psychologen – Max Rieger, mehrfach vorbestraft, ein Mal wegen versuchten Mordes an einem achtjährigen Jungen. Brock bekommt nicht viel aus dem Mann heraus. Dieser leugnet die Tat. Aber was heißt das schon bei einem Mann, der unter paranoider Schizophrenie litt, der noch immer Stimmen hört und der in Kindern Dämonen sieht, die ihn bedrohen. Brock braucht Zeit, doch die hat die Polizei nicht, will sie das Mädchen lebend finden. Dann kommt Riegers ehemalige Pflegerin ins Spiel. Sie behauptet, das Mädchen in ihrer Gewalt zu haben.
Ein Mann, der sich vor Kindern fürchtet. Eine Frau, die fest daran glaubt, dass ihre verunglückte Tochter nur für tot erklärt wurde, damit man ihr ihre gesunden Organe entnehmen konnte. Eine Ärztin und Mutter, die für ihre geliebte Tochter alles tun würde. In dieser verhängnisvollen Dreiecksbeziehung muss der Psychologe retten, was zu retten ist. Heino Ferch spielt in „Zauberberg“ jenen Richard Brock zum dritten Mal als hoch konzentrierten Seelen-Analytiker – mit großem Respekt für alle seine Gegenüber und mit einem kleinen bisschen Verachtung für Volkes Stimme, die aus den Bemerkungen der Semmeringer Kollegen nicht nur zwischen den Zeilen zu vernehmen ist. „Ich hätte gern eine Welt, in der die Kinder sicher sind“, sagt der Polizist, in dem Brock nicht mehr als seinen Fahrer sieht. „Sie hätten gerne eine Welt, in der alles kontrollierbar ist, von Ihnen – aber das wird schwer“, entgegnet Brock. Er ist Psychologe – und er ist Realist. Wenn er sieht, dass sich der Mensch verschließt, bohrt er nicht weiter, sondern er versucht den Lebensraum dieses Menschen zu lesen, um Rückschlüsse zu ziehen auf dessen psychisches Befinden. Brock ist einer, der nicht vorschnell handelt, der sich keine möglichen Szenarien ausmalt, keinen Tathergang rekonstruiert, wie es Polizeipsychologen und Kommissare heute gern tun.
Brock macht sich ein Bild. Das hat er mit einem Filmemacher gemeinsam. Mit einem guten, einem Profi, wie er einer ist. Andreas Prochaska ist so ein Regisseur, der weiß, worauf es ankommt. Auch er hat es mit einem besonderen Dreieck zu tun: da sind die Protagonisten, da ist die Kamera, da ist der Zuschauer. Man muss sich nur die ersten fünf Minuten anschauen – und man sieht, wie perfekt Prochaska in diesem Dreieck filmische Kommunikation zum Leben erweckt. Ein Mädchen auf einer Schaukel im Garten einer Villa. Es dämmert. Die Kamera simuliert einen subjektiven Blick. Das Kind guckt immer wieder in Richtung Kamera; auch die Schnitte legen nahe: da draußen ist etwas. Im Haus sind jetzt nur das Mädchen und seine Mutter. Die klappernde Terrassentür wird geschlossen, das Kind zu Bett gebracht. Die Mutter entspannt in der Badewanne. Ein Nachtfalter macht sich in der Neonröhre zu schaffen, dann wieder ein Klappern, das erneute Schließen der Terrassentür. Dann erst realisiert die Mutter, was das bedeutet – eine Ahnung, Hektik, das Kind ist weg, Panik… Das ist pure Spannung, dramaturgisch ausgefeilt, ein assoziatives Spiel mit Zeit und Raum.
„Spuren des Bösen – Zauberberg“ erscheint in seiner dramaturgisch Gesamtheit so, als hätten Prochaska und sein Drehbuchautor Martin Ambrosch diese fünf Minuten auf 90 Minuten hochgerechnet: konzentrierte Spannung, erzählökonomisch getaktet, immer wieder die Handlung entschleunigt, gedehnt – was besonders gegen Ende, wenn sich die beiden Handlungsstränge treffen, der des vermeintlichen Kindermörders und der seiner Pflegerin, an die Nerven geht. Die besondere Stärke: Spannung ist hier mehr als nur ein Nervenkitzel für den Zuschauer; Spannung ist hier ein Prozess, in dem äußere und innere Spannung kurz geschlossen werden. Die Seele ist ein seltsamer Ort. Der Zuschauer fiebert mit.
Filmästhetisch gehört auch Prochaskas dritter „Brock“ zum Besten, was das deutsch(sprachig)e Krimifernsehen derzeit zu bieten hat. Ein Film aus einem Guss. Das beginnt beim Drehbuch mit seiner Reduktion auf ein sehr überschaubares Personal, auf wenige Schauplätze, auf psychologisch intensive Szenen. Die Vergangenheit kommt zwar zu Wort, aber nicht als ein am Ende alles erklärendes Geheimnis – bei Brock wird der Fall physisch und psychologisch im Hier und Jetzt geklärt. Ein hoher Grat an Authentizität kommt durch die Besetzung zustande: Außer Ferch und Marie-Lou Sellem gibt es keine deutschen Schauspieler. Und der niederösterreichische Handlungsort Semmering schreit zwar nach österreichischen Darstellern, die hierzulande völlig unbekannt sind, aber da ist ja noch das ZDF: und das tat gut daran, dem ORF bei dieser Koproduktion nicht ins Casting zu pfuschen. Dass Musik, Sounddesign und auch die Montage vorzüglich sind, versteht sich bei Andreas Prochaska schon fast von selbst. Und auch, dass sich ein düsterer Schatten über das Filmende legt, ist nicht untypisch für seine Genrefilme und für die Produktionen des Autors Martin Ambrosch, der zwei der besten Krassnitzer/Neuhauser-„Tatorte“ geschrieben hat.