Ein Traum wird wahr. Die Eichhorns ziehen raus aus der Großstadt und rein ins Paradies: Sechzehneichen. Eine sogenannte „Gated Community“, weitab von der Großstadt – ohne Lärm, ohne Gestank, ohne die Unübersichtlichkeit einer grenzen- und kulturübergreifenden Gesellschaft. In Sechzehneichen sind die Reichen unter sich. Luxus-Architektur im Grünen, 20 freistehende Häuser, eine exklusive Siedlung mit eigenem Gemeindezentrum und engen, privaten Bindungen. Was Ehemann Nils gefällt, dafür hat Laura nur Kopfschütteln übrig: egozentrische Tussis, Männer, die ihr Machogebaren hinter Snobismus verstecken, steriles Ambiente, steife Umgangsformen. „Was sind denn das für Menschen?!“, fragt sie sich nach dem Willkommensfest. Nils sieht das anders. Er will unbedingt Mitglied werden im Männer-Club der „Community“. Es gibt nur ein Problem: seine Frau. „Wir haben das Gefühl, du kannst sie nicht in Schach halten“, befürchten die anderen. Aber Nils kann auch anders. Die Entfremdung zwischen dem Paar steigt ins Unerträgliche. Die Macht von Sechzehneichen ist Lauras Ohnmacht. Und dann ist auf einmal auch ihre flippige Schwester eine von ihnen.
Foto: HR / Thomas Rusch
„Sechzehneichen“ erzählt vom neuen Glück hinterm Schlagbaum, von seltsamen Menschen, die sich in einem Idyll selbst einbunkern. Es ist ein Leben weitgehend ohne soziale Ängste, ein Leben in einem ebenso geschützten wie reglementierten Raum, in dem sich alles kontrollieren lässt. Damit es nicht allzu langweilig wird, sorgen selbst initiierte „Spielchen“ für (sexuelle) Abwechslung und Nervenkitzel. Der Film von Hendrik Handloegten führt den Zuschauer in eine vermeintlich heile, höchst obskure Welt aus Männerbündelei und weiblicher Unterwürfigkeit, in ein perverses Biotop, in dem der Mann das Maß aller Dinge ist und die Frau als schöne Dekoration – oder Lust-Objekt für alle – ihre Erfüllung findet. „So eine Frau hätte jeder gern“, ein Satz eines Mitbewohners beim Begrüßungsfest für die Eichhorns, in dem sich mehr als nur ein Kompliment verbirgt. „Für jeden genau die Richtige, die Einmalige“ – das lässt sich die männliche Hauptfigur nicht zwei Mal sagen. In der Ehe kriselt es. Weshalb also nicht der geheimnisvollen Frau in Blau folgen? Weshalb nicht an ihr seine Gier stillen? Und weshalb nicht die Schwägerin den anderen geilen Männern zuführen?
Foto: HR / Thomas Rusch
In Sechzehneichen leben die Menschen in einem prä(frauen)emanzipatorischen Zustand. Es ist sicher kein Zufall, dass diese eigenwillige HR-Produktion in Ausstattung, Kamera-Look und Frauenbild auffallend an die Ästhetik der 60er Jahre erinnert, ein Jahrzehnt, das zwar dem althergebrachten Geschlechter-Diskurs eine sexy-poppige-Flower-Power-Verpackung gab, das aber im Kern weitgehend ein Jahrzehnt des Chauvinismus’ blieb. Oder ist es eine rein subjektive Lesart: in der klaren Ikonografie der Räume und der strengen Cadrierung der Bilder viel von Meisterregisseur Michelangelo Antonioni zu erkennen? In den weichen Montagen in der Natur die Aura einer von der Sixties-Werbeästhetik inspirierte Filmsprache auszumachen? Und immer wieder Frauen zu sehen, die etwas von der (oberflächlichen) Moderne jenes Jahrzehnts besitzen? Lavinia Wilson und vor allem Stefanie Stappenbeck sehen aus, als kämen sie gerade aus dem Gard-Haarstudio, der schöne Vamp in Blau hat etwas von Godards Anna Karina und Heike Makatsch, die als Schauspielerin gar nicht mehr so heutig wirkt wie noch als Pop-Girlie, hat nicht umsonst die Knef gespielt, eine der wenigen Ikonen des Eigensinns jener Jahre, auch wenn sie in der Szene, in der sie von den teuflischen Nachbarn umzingelt wird, eher wirkt wie Mia Farrow in „Rosemaries Baby“, ein Film aus dem Jahre 1968.
Stilhistorisch sind die 60er Jahre das Jahrzehnt der Moderne – auch in der Filmkunst. V-Effekte, irritierende Szenenfolgen, Alptraumhaftes enthält auch „Sechzehneichen“. Bunuel lässt grüßen. Moderne Filmsprache – das heißt auch: Szenen und Bilder sind konkret in ihren sinnlichen Details, aber abstrakt in ihren möglichen Bedeutungen. Wie so oft bei Filmen des Hessischen Rundfunks lässt sich auch bei „Sechzehneichen“ viel hineininterpretieren. Wer so etwas nicht mag oder nur noch die Zeichen des Krimis versteht – der sieht vielleicht nur Leere oder eine zu ambitionierte Rätselhaftigkeit. Eines aber ist sicher: Ohne einen Film wie diesen wäre die Fernsehfiktion in diesem Jahr sehr viel ärmer. (Text-Stand: 28.10.2012)