Es ist ein trauriges, lange Zeit vergessenes Kapitel in der Geschichte der Kinderarbeit: Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts kamen die Kinder der Ärmsten der Armen aus Tirol, Vorarlberg oder der Schweiz für den Sommer herüber über die Alpen, um im reichen Deutschland auf den Höfen zu arbeiten. Für die Eltern zuhause ein notwendiges Zubrot, um nicht zu verhungern, für die Bauern in der Bodenseeregion eine Möglichkeit, billige Arbeitskräfte zu bekommen. Nach der tagelangen Wanderung durch Schnee und Eis wurden die Halbjahreswaisen auf Kindermärkten als Knechte, Hütejungen oder Mägde verkauft.
Jo Baier (“Der Laden”) kam durch den Roman von Elmar Bereuter auf das Phänomen der sogenannten “Schwabenkinder”. Der Grimme-Preisträger, der seine Geschichten am Liebsten aus Vergangenem schöpft, fand in dem Stoff Themen und Motive, die ihn immer schon in seinen Filmen beschäftigt haben: das Herausgerissenwerden eines Menschen aus seiner angestammten Umgebung, das Fremdsein, die Wanderung. “Das Problem des Fremdseins ist immer noch gegenwärtig”, so Baier. “Kinderarbeit leider auch.” Sein Film erzählt sehr genau eine historische Situation und trifft damit gleichzeitig Konflikte und Gefühlslagen von heute.
Im Mittelpunkt des 110-minütigen Films steht der kleine Kaspar. Nach dem Tod seiner Mutter weiß sich der Vater keinen anderen Rat, als den achtjährigen zu den Schwaben zu schicken. Nach der Tortur über die Alpen, die eines der Kinder nicht überlebt, kauft ihn ein Bauer, der sich als grobschlächtiger “Saubauer” erweist. Kaspar muss, statt auf der Weide die Kühe hüten, die Ställe ausmisten. Er wird schikaniert, bestraft, muss barfuß gehen – denn das sei Brauch. Nach einem Brand wurde er für tot erklärt. Doch 20 Jahre später taucht Kaspar wieder in seinem Bergdorf auf. Und er erzählt dem kranken Vater seine Leidensgeschichte.
“Der Weg, den die Kinder gehen, ist ein Passionsweg”, sagt Baier, selbst in einfachen Verhältnissen auf dem Dorf groß geworden. “Die Kinder wurden regelrecht hinausgeworfen auf diesen Kreuzweg und mussten diese Passion erleiden, ehe sie wieder zurückkehren durften.” Der Zuschauer leidet mit ihnen (und dem Geistlichen, der sie führt, Tobias Moretti) beim beschwerlichen Stapfen durch die Eiswüste, durch Nebel und Schneegestöber und beim menschenunwürdigen Verkauf auf dem Kindermarkt. Da die Balance zu halten zwischen Schwarz und Weiß und nicht zu kräftig auf den “Ausbeuter” (Jürgen Tarrach) zu hauen ist nicht einfach. Baier gelingt es, auf dieses unrühmliche Kapitel deutsch-österreichischer Freundschaft anteilnehmend und doch weitgehend historisch beschreibend zu schauen. Von diesem Ende der Kindheit mit dem Segen der Kirche in Rückblenden zu erzählen ist eine gute Methode. Die Bilder wie alte Gemälde sprechen zu lassen eine andere. (Text-Stand: 7.3.2003)