Ein Augen-Blick der Unachtsamkeit, vielleicht ein paar Km/h zu viel oder abgelenkt von einer attraktiven Passantin – Hans-Jörg Wörner (Martin Brambach) übersieht einen jungen Mann, der achtlos auf die Straße läuft. Jener Nico Hellmann (Samuel Schneier) ist sofort tot. Der Fahrer des Wagens braucht nun einen guten Anwalt: Kronberg (Moritz Bleibtreu) klärt den völlig konsternierten Mann auf. Bei einem Unfall mit Todesfolge muss die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung einleiten und dafür die Kripo einschalten. Bei der Durchsuchung des Hauses des Opfers, das noch in seinem Elternhaus lebte, gemeinsam mit seiner Mutter (Iris Berben), macht der Kommissar (Tom Wlaschiha) grausige Entdeckungen. Der junge Mann war offenbar ein Sadist, der besondere Lust am fachgerechten Sezieren von Tieren fand. Dass er dem Fahrer so unvermittelt ins Auto lief, kann auch mit seinem hohen Alkoholgehalt im Blut und mit jener Passantin (Ruby O. Fee) in Zusammenhang stehen, die Sekunden vor dem Unfall offenbar auch schon Wörners Aufmerksamkeit auf sich zog.
Foto: ZDF / Julia Terjung
Die vier neuen Episoden der ZDF-Reihe „Schuld“ nach Ferdinand von Schirach – „Kinder“, „Anatomie“, „Das Cello“, und „Familie“ – schließen mit dem gleichen narrativen Konzept und denselben filmischen Qualitätsstandards an die ersten sechs Filme an. Erzählt werden Lebensgeschichten als faszinierende Miniaturen, die auf das Wesen eines Menschen und auf das Wesentliche einer Erzählung reduziert sind. Die Schauspieler, allen voran Moritz Bleibtreu, sind namhaft, und ihr Spiel ist konzentriert. Die Zeitebenen verschmelzen wie von Geisterhand miteinander, Situationen werden häufig assoziativ montiert. Mit ihren Auslassungen, Andeutungen und symbolischen Verdichtungen ähneln diese 45-Minüter der Art, wie Rock- und Popsongs ihre Geschichten erzählen. Und wie meistens in Moovie-Produktionen gibt es viel zu gucken und zu entdecken.
„Anatomie“, die zweite Episode aus der zweiten Staffel der ZDF-Ausnahmeserie „Schuld“, erzählt eine Schreckensgeschichte aus der Nachbarschaft. Hinter gutbürgerlicher Fassade lauern Abgründe. Lässt sich eine Schuld aufwiegen, wenn durch eine Tat eine andere schlimmere Tat verhindert wird? Das ist die juristische Frage, die sich bei dem Film von Hannu Salonen nach dem Drehbuch von André Georgi stellt. Den Zuschauer aber treibt bald anderes um: Wo liegen in diesem Fall die Wurzeln des Bösen? Ist es die Summe narzisstischer Kränkungen? Der Teufelskreis der sozialen Isolation? Oder ist es das Elternhaus, das einen jungen Menschen zum Monster werden lassen kann? Die Einrichtung im Haus der Hellmanns (ein Kompliment dem Szenenbild) lässt einen einiges erahnen. Und was soll man von einer Mutter halten, die jahrelang weggeguckt und weggehört hat, wenn die Todesschreie der Tiere aus dem Keller hallten, und die – um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen – am Ende meint: „Es wäre besser gewesen, mein Sohn hätte nie gelebt.“ Dieser Film klärt nicht alles auf. Auch einige Bilder kann der Zuschauer selbst interpretieren, wie beispielsweise die Einstellung, in der die Mutter verloren im blumenlosen Garten ihrer geschmacklosen Villa steht, zwischen den Löchern, aus denen die sezierten Tiere, an denen sich ihr Sohn vergangen hat, geborgen wurden. „Anatomie“ wird – anders als die anderen neuen „Schuld“-Filme – nicht von einer Episoden-Identifikationsfigur getragen. Für die monströsen Hellmanns findet man kein Mitleid und der von Brambach verkörperte Autofahrer spielt nicht die zentrale Rolle, wie man zunächst annimmt. Fazit: ein Film, der den juristischen Fall in das Gewand realistischen Horrors packt und dessen Aufklärung sehr viel ästhetische & magische Momente besitzt.
Foto: ZDF / Julia Terjung
Die sechs Filme der ersten Staffel von „Schuld“ (2015)
„Der Andere“: Ein Ehepaar lässt sich auf nicht ungefährliche sexuelle Praktiken ein: die Frau schläft mit anderen Männern und ihr Mann filmt sie dabei. Die Gier nach dem Kick endet mit einer Anklage wegen versuchten Mordes. „Schnee“: Einem alten Mann, in dessen Wohnung Drogen gestreckt und abgepackt werden, droht eine hohe Haftstrafe wegen Drogenhandels „unter Mitführung einer Waffe“. Er schweigt, weil ihm das Glück einer jungen Frau wichtiger ist als seine Freiheit. „Ausgleich“: Eine Ehefrau wird über Jahre von ihrem Mann misshandelt und vergewaltigt. Dann ist der Peiniger plötzlich tot, ihm wurde nachts im Schlaf der Kopf eingeschlagen. Ein klarer Fall von Heimtücke? „Die Illuminaten“: Ein Junge wurde in einem Internat über Jahre gemobbt. Endpunkt ist eine tragische Dämonen-Austreibung. Das Fatale: der Teenager fühlt sich schuldig und willigte in das grausame Ritual ein. „DNA“: Ein junges Obdachlosen-Pärchen tötet in Panik einen Mann, beklaut ihn und gibt seinem Leben mit dem Geld eine glückliche Wende – bis die forensische Wissenschaft dem Familienglück ein Ende zu bereiten droht. „Volksfest“: Unbemerkt vergewaltigen die Musiker einer Showkapelle während eines Volksfests eine Kellnerin. Einer der neun Männer ist unschuldig. Wird die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten die Tat nachweisen können?