„Familien sind die Welt im Kleinen. Dort gibt es alles: Liebe, Schicksal, Kriegsschauplätze“, sagt die Regisseurin Claudia Prietzel. Sie und ihr Partner Peter Henning tauchen in ihren Filmen immer wieder ein in jenen dramatischen Mikrokosmos. Mal sind es Pubertierende, die den Eltern das Leben schwer machen, mal sind es die Erwachsenen, die ihre Kinder eigenen Bedürfnissen opfern. In „Schattenkinder“ zeigen beide, wie fatal Liebe sein kann und dass es auch eine krankhafte Sorge geben kann, eine Liebe, die ganz nah am Tod liegt.
Gerade erst hat Sandra ihre kleine Agnes verloren. Ihr Tod gab den Ärzten Rätsel auf. Die Mutter, die selbst einige Semester Medizin studiert hat, gibt den Ärzten die Schuld. Jetzt scheint sich die mysteriöse Krankheitsgeschichte bei ihrer älteren Tochter Therese zu wiederholen. Wieder konsultiert Sandra einen Arzt nach dem anderen und wieder können diese nichts finden. Christiane, die Schwester der fürsorglichen Mutter ist irritiert davon, dass „die starke Sandra“, wie sie der Vater nennt, mal wieder – wie damals bei der kranken Mutter – alles selbst in die Hand nehmen will. Statt den Ärzten zu glauben, wälzt sie selbst Fachbücher und bestimmt die Medikamentierung der Tochter nach eigenem Gutdünken.
Das Problem ist die Mutter. Sie leidet unter einer psychischen Störung, dem „Münchhausen by proxy“-Syndrom. Die Krankheit kreist um die Unfähigkeit von Müttern, ihre Gefühle selbst auszuleben. Auch Sandra gesteht sich ihre Gefühle nicht zu, sie scheint in den Aufgaben einer Mutter, dem Leben für andere, aufzugehen. „Sie kann eine eigene Geborgenheit nur durch die Sorge um die Kinder erfahren“, so Peter Henning. „Sie geht ins Krankenhaus, weil sie sich selbst elend fühlt, es sich aber nicht eingesteht.“ Ihre Kinder sind ihre Stellvertreter.
Zu wissen, dass die eigentlich Kranke die Mutter ist, tut dem Spannungsverlauf keinen Abbruch. „Schattenkinder“ funktioniert mit und ohne Wissen um das grausame Syndrom. Schon die ersten Bilder legen sich wie ein Unheil bringender Schleier über die Ereignisse und deuten leise an, dass in diesem Film mehr waltet als ein blasser Abbildrealismus. Es muss eine reale, undurchschaubare Kraft wirken in dieser so wahrhaftig erscheinenden Geschichte, von der man weder eine Auflösung als rührseliges Krankheitsmelodram noch als Thriller erwartet. Das Feld der Figuren ist eng abgesteckt. Die Familie dominiert. Da sollte die Störung auch aus den eigenen Reihen kommen, ahnt man. Da über 70 Minuten das Unfassbare nicht ausgesprochen wird, heißt es für den Zuschauer vor allem: genau hinsehen!
Beata Lehmann glänzt als Mutter und gibt ein vielschichtiges Bild ihrer Krankheit. Sie zeigt nie zu offensichtlich das Selbstzerstörerische ihres Charakters. Ihre Sandra, die dennoch nach und nach vom Zuschauer überführt werden kann, ist kein Monster, sondern ein Mensch, einer, bei dem man bei aller Mutterliebe zunehmend eine Lebens- und Lustfeindlichkeit zu erkennen glaubt. Auch die anderen Darsteller, allen voran Karoline Eichhorn, bringen dieser Geschichte gegenüber eine große Verantwortung mit. Das zwischentonreiche Spiel wird auf besondere Art von Kameramann Ngo the Chau („Nachtschicht“) begleitet und kommentiert. Seine Bilder erst machen aus dem Familiendrama einen Alptraum. (Text-Stand: 23.1.2008)