Ein Kinderauge, leer und traurig sein Blick. Wie in einem Zerrspiegel nimmt es die Wirklichkeit wahr, mal rasend schnell, mal in Zeitlupe. Ein Kind, das hilflos ist, gefangen in seinen Gefühlen, eingeschlossen wie in einem Kokon. Die Regisseure Claudia Prietzel („Kinder ohne Gnade“) und Peter Henning erzählen in „Schande“ die Geschichte der 12jährigen Bénice. Sexuell missbraucht flüchtet sie sich mehr und mehr in eine eigene Welt. Der außergewöhnliche WDR-Fernsehfilm nach dem Drehbuch von Burkhard Driest zeigt die stille Leidensgeschichte seiner Heldin kein bisschen spekulativ und ohne falschen pädagogischen Ehrgeiz.
„Alle Beteiligten sind so mit der Tätersuche, mit Angriffen und mit Verteidigungen beschäftigt, dass sie gar nicht wahrnehmen, wie dabei das Mädchen auf der Strecke bleibt…“ (WDR-Pressetext)
„Eine schwer zu verkraftende Missbrauchstragödie, überzeugend gespielt und geradlinig inszeniert. Eine niederschmetternde Tragödie“ (TV-Spielfilm)
Foto: WDR
Die Ehe von Claudia und Hubertus Melzer ist zerrüttet, der Scheidungstermin steht bevor. Beide leben längst getrennt und mit neuen Partnern. Bénice lebt bei der Mutter und ihrem neuen Lover Josch, Schwester Ria beim Vater. Materiell gibt es keine Probleme. Die Mutter ist Lehrerin, der Vater fährt Porsche. Auf den ersten Blick alles gut. Umso schwerer der Schlag, als Claudia einen getrockneten Spermafleck im der Unterwäsche ihrer Tochter findet.
dominiert die 90 beklemmend-spannenden Minuten. Der Zuschauer wird Zeuge, wie sich die Erwachsenen an der Überführung der Täter abarbeiten. „Das Opfer wird letztlich alleingelassen“, sagt Claudia Prietzel. Der Täter bekommt (wenn überhaupt) ein paar Jahre, das Opfer indes lebenslänglich! „Die Gesellschaft tut sich schwer, mit seelischen Zuständen umzugehen“, so Ko-Regisseur Peter Henning. Die Strafbarkeit rückt in den Mittelpunkt. Prietzel: „Dabei ist der gelebte Alltag das Schlimme.“ Um diese Erfahrungen des Alltags ging es der Regisseurin vor allem. Sie wollte den Mechanismen der Verdrängung nachspüren. „Nicht anwesend zu sein, wärend der Missbrauch passiert“, so Prietzel, sei eine Form der Verdrängung. Dargestellt wird das durch die extremen Optiken (Unschärfen, schräge Perspektiven; diffuses Licht) von Kameramann Florian Ballhaus (33), Sohn von Michael Ballhaus. Die Bilder entstehen quasi aus der inneren Welt des Kindes. Und genau diese subjektive Wahrnehmung ist der Schlüssel zur Einzigartigkeit des Films.
Der Spiegel schwang sich zum vermeintlichen Anwalt der Missbrauchten auf und hat dabei offensichtlich vergessen, sich den Film vorurteilsfrei anzuschauen:
„So ergibt sich ‚Schande‘ dem Pathos des Unheils, nichts kann das Schicksal stoppen. Das strafft die Dramaturgie, das betäubt Nachdenken über Auswege.
Alle Energie verschwenden die Bilder, um zu zeigen, wie der Schuft sein Opfer mit Cocktailkleid und Sekt in der Badewanne als Sexualobjekt zurichtet. Und selbst, als das Mädchen in den Tod stürzt, springt die Kamera neugierig hinterher… Kein Wort über Therapiemöglichkeiten, aber die Quote wird stimmen.“Sollte dies mit der Grund sein, weshalb dieser herausragende, mehrfach preisgekrönte, zeitlos gute & gültige Film nur so selten wiederholt wird?!
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Das Spiel der Darsteller ist zurückgenommen, beiläufig, keine großen dramatischen Szenen. Die 12jährige Stephanie Charlotta Kötz spielte ihre erste Filmrolle, ohne jeglichen Lolita-Touch. Imogen Kogge („Totalschaden“) verkörpert die Mutter, eine psychisch überforderte Frau, die nichts sieht. Hansa Czypionka („Jenseits der Stille“) sowie Oliver Stritzel („Vergewaltigt“) spielen die Männer in ihrem Leben. Der, der den „Täter“ spielt, sagt über seine Figur: „Er ist einer, der alles aus überbordender Liebe tut. Kein brutaler Ausnutzer, eher einer, der sich in seinen Gefühlen verläuft.“ Weil der Film viele Fragen, die er aufwirft, nicht beantworten kann („sonst wäre er wahrscheinlich ein schlechter Film“, so WDR-Fernsehspielchef Gebhard Henke), gibt es anschließend eine 45minütige Diskussionssendung: „Kindesmissbrauch. Wege aus der Not“, moderiert von Ulrich Wickert. (Text-Stand: 1999)