Ob tatsächlich irgendjemand beim Sender oder in der Produktionsfirma der Meinung war, „Stadt, Land, Kuss“ sei ein einfallsreicher Titel? Allerdings ist die Geschichte dieses romantischen Dramas auch nicht gerade originell, folgt sie doch einem Muster, das freitags im „Ersten“ und sonntags im „Zweiten“ immer wieder auftaucht: Junge Frau kehrt aus der Stadt zu ihren Wurzeln zurück, trifft ihre Jugendliebe und erkennt, wo sie wirklich hingehört. Das ist als Handlungskern mittlerweile genauso abgenutzt wie die ständigen Bilder vom Sonnenuntergang überm Meer in den „Herzkino“-Reihen „Rosamunde Pilcher“ und „Inga Lindström“. In diesem Fall kommt sogar noch ein weiteres beliebtes Handlungselement hinzu: Die Heldin hat ein Kind, von dessen Existenz der Erzeuger nichts weiß.
Wider Erwarten ist „Stadt, Land, Kuss“, nicht zu verwechseln mit einer Hollywoodkomödie gleichen Titels (2001), trotzdem keine Zeitverschwendung: weil die Autoren Andreas Bradler und Karsten Rüter aus den bekannten Versatzstücken eine überraschend abwechslungsreiche Geschichte gemacht haben; und weil das Ensemble ausnahmslos überzeugt. Eine Entdeckung ist vor allem Pina Kühr in ihrer ersten Fernsehfilmhauptrolle. Als Titeldarstellerin der Sat-1-Ensembleserie „Die Läusemutter“ (2020) hatte sie nicht viel zu tun, aber im Pilcher-Film versieht sie die Rolle der alleinerziehenden Flora, die mit 18 schwanger geworden und nach Liverpool geflohen ist, nachdem der Kindsvater sie zur Abtreibung aufgefordert hat, mit sympathischer Herzlichkeit. Zweite wichtige Personalie ist der junge Leonard Artur Conrads als Floras 14jähriger Sohn Luke, der schließlich maßgeblichen Anteil daran hat, dass seine Eltern wieder zusammen finden.
„Star Wars“-Fans, die aber vermutlich ohnehin nicht zur Zielgruppe zählen, werden zwar vergeblich auf eins der berühmtesten Zitate der Filmgeschichte warten, aber die familiäre Wiedervereinigung ist trotzdem nett eingefädelt: Luke ist etwas zappelig, weshalb die Schulpsychologin umgehend ADHS diagnostiziert und Tabletten empfiehlt. Damit der Junge endlich die Finger vom Smartphone lässt und ein bisschen zur Ruhe kommt, machen Mutter und Sohn zwei Wochen Ferien auf dem Land bei Floras Mutter (Heike Trinker). Bei seinen Streifzügen durch die Umgebung trifft er einen missmutigen alten Mann, der Vögel beobachtet. Die erste Begegnung endet ruppig, aber nach und nach freundet sich Luke mit dem misanthropischen Nachbarn an, nicht ahnend, dass der verwitwete Sir Henry sein Großvater ist. Günther Maria Halmer hat in den letzten Jahren womöglich mehr Grantler spielen müssen, als ihm lieb ist, aber es ist trotzdem immer wieder schön, wie er hinter der rauen Schale dieser Männer nach und nach ein gutes Herz offenbart. Henrys Lieblingsfeindin ist ausgerechnet Lukes Oma, eine Frau, die weitgehend dem TV-Stereotyp „Künstlerin“ entspricht: Liz ist ein extravaganter rothaariger Freigeist, der Affären mit jüngeren Männern hat und auch sonst gern auf Regeln pfeift; fehlt nur noch, dass sie hin und wieder einen Joint raucht. Flora hadert zwar mit ihrer Mutter, weil sie als Kind gern ein Leben mit mehr Struktur geführt hätte, aber die Botschaft ist trotzdem eindeutig: Ein bisschen Chaos schadet nicht.
Ähnlich klischeehaft fällt Floras Freund aus: Der Mann disqualifiziert sich schon bei seinem ersten Auftritt; in anderem Genreumfeld könnte Bernard auch ein Serienmörder sein. Außerdem wird er von einem Briten verkörpert (Giles Cooper); damit ist ohnehin klar, dass er in diesem Film keine Zukunft hat, denn die wirklich wichtigen Rollen werden stets mit deutschen Schauspielern besetzt. Lukes Vater Eric ist nicht nur ein deutlich angenehmerer Zeitgenosse (Ian Thomas McMillan ist gebürtiger Augsburger), sondern außerdem Polizist, der nicht davor zurückschreckt, Henry den Führerschein abzunehmen. Luke findet ihn ziemlich cool, erst recht, als Eric ihn mit Blaulicht und Sirene nach Hause fährt.
Für die Wiedervereinigung des einstigen Liebespaares findet das Drehbuch ebenfalls einen plausiblen Vorwand: Weil Diebe Metall vom Kirchendach gestohlen haben, hat ein fünfhundert Jahre altes Fresko einen Wasserschaden abbekommen; da trifft es sich gut, dass Flora Restauratorin ist. Bislang ist sie Eric aus dem Weg gegangen, aber nun bittet er sie in seiner Funktion als Mitglied des Gemeinderats um Hilfe. Wie sehr sich das Drehbuch an den Regeln des Sendeplatzes orientiert, lässt sich auch daran ersehen, dass pünktlich zu Beginn des letzten Akts, nachdem sich das Paar zum ersten Mal seit gut 14 Jahren wieder geküsst hat, Bernard auftaucht. Dazu passt, dass Regisseur Stefan Bartmann, dessen Berufsleben seit gut zehn Jahren nur noch aus leichten bis seichten Reihen wie „Rosamunde Pilcher“, „Das Traumschiff“ und „Kreuzfahrt ins Glück“ besteht, inklusive Musikjubel zum Kuss konsequent die Seh- und Hör-Erwartungen des Sendeplatzes bedient. (Text-Stand: 19.12.2020)