Es mutet immer ein bisschen seltsam an, wenn ein Drehbuch sein Publikum noch im Dunkeln tappen lassen möchte, obwohl der Sachverhalt schon längst mehr als nur erahnbar ist. Bis zu einem gewissen Grad mag es ja befriedigend sein, wenn man als Zuschauer etwa im Krimi auf der richtigen Spur ist, aber aus Autorensicht ist es auch ein schmaler Grat, weil so etwas leicht als Beleidigung der Intelligenz empfunden werden kann. Und damit ist gar nicht gemeint, dass in den ZDF-Sonntagsfilmen in der Regel schon früh feststeht, welcher Topf am Ende welchen Deckel findet, das gehört bei Liebesgeschichten schließlich zur Vereinbarung. Im Fall des Pilcher-Films „Schutzengel“ aber weiß man schon nach wenigen Minuten, was das Drehbuch (Martin Wilke, Jochen S. Franken) erst später preisgibt: Kate (Suzan Anbeh), attraktive alleinerziehende Mutter eines so gut wie erwachsenen Sohnes, hat vor 20 Jahren als Kronzeugin gegen ihren Mann ausgesagt; Ted Kinnock (Siemen Rühaak) hatte Tausende Anleger um ihre Ersparnisse gebracht und ist zu einer lebenslangen Haft in London verurteilt worden. Weil er damals geschworen hatte, sich an seiner Frau zu rächen, ist sie ins Zeugen-Schutzprogramm aufgenommen worden und lebt nun mit neuer Identität in Cornwall. Als der todkranke Kinnock vorzeitig entlassen wird, fürchtet Polizist und Titelfigur Dave (Heiko Ruprecht), der sich damals in Kate verliebt und eine Affäre mit ihr hatte, um ihre Sicherheit.
Foto: ZDF / John Ailes
Weil das kompliziert konstruierte Szenario in Wirklichkeit von Anfang an durchschaubar ist, gibt es nur eine Frage, die tatsächlich offen ist: Wer ist der Vater von Kates Sohn? Der junge Mann rückt mehr und mehr in den Vordergrund, denn er darf die auf diesem Sendeplatz unverzichtbare Liebesgeschichte erleben: Eigentlich soll sich Channing (Jeremy Mockridge) auf eine bevorstehende Ruderregatta konzentrieren, zumal ihm seine Mutter versprochen hat, ihm anschließend endlich die Wahrheit über seinen Vater zu erzählen; aber seit er Rachel kennengelernt hat, ist das Rudern nur noch zweitrangig. Mockridge ist vor einigen Jahren als männlicher Hauptdarsteller des ARD-Märchens „Die goldene Gans“ positiv aufgefallen und macht seine Sache auch hier ganz ordentlich, aber nicht zum ersten Mal im Sonntagsfilm des ZDF hinterlässt eine unbekannte Hauptdarstellerin den nachhaltigeren Eindruck; allerdings hat Leonie Rainer als etwas aus der Art geschlagenes Mädchen aus sehr gutem Hause, das sein Jurastudium zugunsten eines sozialen Engagements abgebrochen hat und sich immer wieder geistreiche Scharmützel mit seiner in den Konventionen erstarrten Mutter (Charlotte Schwab) liefern darf, auch die deutlich besseren Dialoge. Darüber hinaus aber ist ihr frisches Auftreten tatsächlich ein Grund, sich den ansonsten bis in die Details vorhersehbaren Film anzuschauen.
Sehenswert ist auch Heiko Ruprecht. Der als Bruder des „Bergdoktors“ bekannt gewordene Schauspieler (Jahrgang 1972) ist zwar etwas zu jung, um als Polizist schon Mitte der Neunziger einen gewieften Wirtschaftskriminellen zur Strecke gebracht zu haben, interpretiert seine Rolle aber angenehm sparsam und dennoch wirkungsvoll. Dave hatte Kate einst ein „Notfall-Handy“ gegeben. Als Channing das Telefon zufällig entdeckt und neugierig die einzige gespeicherte Nummer wählt, ist Dave alarmiert und reist auf der Stelle nach Cornwall. Dort erwachen selbstredend umgehend die einstigen Gefühle zwischen ihm und Kate; alte Liebe rostet in den Pilcher-Filmen nie. Natürlich will Channing wissen, wer Dave ist, also stellt Kate ihn kurzerhand als seinen Vater vor. Später kommt auch noch der Betrüger nach Cornwall, aber die viel interessantere Erzählebene ist die Romanze zwischen Channing & Rachel, zumal die junge Liebe von den anderen Ereignissen überschattet wird. Wie das frisch verliebte Paar zueinander findet und sich vorübergehend wieder entzweit, ist schön erzählt und gut gespielt.
Während die Darstellerführung angemessen ist, haben die Sonntagsfilmspezialisten Stefan Bartmann (Regie) und Marc Prill (Kamera) „Schutzengel“ ansonsten als typisches „Herzkino“ gestaltet, unmotivierte Küstenflüge und Sonnenaufgang über dem Meer inklusive. Ein bisschen Spannung bezieht der Film aus der Frage, ob Kates Ex-Mann, wie er behauptet, vor seinem Tod tatsächlich reinen Tisch machen will, oder ob er nicht doch Böses im Schilde führt. Das entsprechende Nervenkitzelpotenzial verschenkt Bartmann allerdings ebenso wie die mögliche Wettkampfstimmung bei der Regatta. (Text-Stand: 29.2.2016)