Eigentlich schade, dass die ARD-Tochter Degeto die Freitagsfilmreihe „Reiff für die Insel“ 2015 nach fünf Episoden eingestellt hat. Die entstandene Lücke wird seit letztem Jahr durch „Praxis mit Meerblick“ gefüllt. Erneut spielt Tanja Wedhorn die Hauptrolle, diesmal als Ärztin. Die Handlung trägt sich gleichfalls auf einer Insel zu (statt Föhr nun Rügen), und auch dramaturgisch gibt es so viele Parallelen, dass sich die Produktionsfirma der ersten Reihe, Real Film, womöglich beim Produzentenverband beklagt hätte, wenn sie nicht auch für die zweite verantwortlich wäre. Weil Hauptfigur Nora Kaminski ein großes Herz hat, gehört „Praxis mit Meerblick“ in jenes Genre, dass man sarkastisch als „Mutter-Teresa-Filme“ bezeichnen könnte: Ähnlich wie ihre TV-Kolleginnen aus „Eifelpraxis“ (ARD), „Lena Lorenz“ (ZDF) oder der Dorfhelferinnen-Reihe aus dem fiktiven „Frühling“ (ZDF) ist Nora Tag und Nacht für ihre Patienten da. Für zwischenmenschliche Momente jenseits der medizinischen Ebene sorgt ihr Sohn Kai (Lukas Zumbrock), der in Berlin Jura studiert, seine Mutter besucht und prompt zur zusätzlichen Belastung wird. Die wichtigeren Rollen spielen in „Brüder und Söhne“ jedoch die beiden anderen Titelfiguren: Fischer Matthias Butenschön (Shenja Lacher) kümmert sich seit dem Tod der Eltern um seinen Bruder Robin (Max Dominik), einen jungen Mann mit Down Syndrom. Nora lernt die beiden kennen, als sich der Junge bei einem Missgeschick verletzt, aber Sorgen bereitet ihr vor allem der große Bruder: Matthias humpelt stark, und als er bei einer Polizeikontrolle zusammenbricht und ins Krankenhaus eingeliefert wird, stellt sich heraus, dass aus einer anfangs kleinen Wunde eine Infektion entstanden ist, die bereits das Knochenmark erfasst hat; zu allem Überfluss ist er nicht krankenversichert.
Sibylle Tafel hat bereits vor einigen Jahren den „Eifelpraxis“-Auftakt inszeniert, sie kennt das Genre also und weiß als erfahrene Regisseurin ohnehin, worauf es den Auftraggebern bei solchen Filmen ankommt: schöne Bilder und viel Gefühl. Für die ansprechende Optik ist Klaus Merkel zuständig, der kürzlich gemeinsam mit Tafel auch beim ersten „Lissabon-Krimi“ (ebenfalls für die ARD-Tochter Degeto) dafür gesorgt hat, dass die portugiesische Hauptstadt in bezauberndem Licht erschien. Auf Rügen hat er nicht ganz so imposante Motive gefunden, aber für kalendertaugliche Aufnahmen von Himmel, Meer und Sonnenuntergang hat es allemal gereicht. Der emotionale Teil obliegt vor allem den Darstellern, die ihre Sache fast ausnahmslos gut machen. Tanja Wedhorn ist als Sympathieträgerin ohnehin eine Bank. Gleiches gilt für Stephan Kampwirth als Noras platonischer Freund und Praxispartner. Da sie völlig pleite ist, wohnt sie auch bei ihm, weshalb ihr nicht lange verborgen bleibt, dass der frühere Kommilitone unter einem Putz- und Waschzwang leidet. Bester Einfall, um die Konsequenzen dieser Störung zu zeigen, ist eine intime Szene, in der sich Richard wie ein Baum im Sturm zur Seite neigt, als ihm seine Freundin (Anja Antonowicz) auf die Pelle rücken will. Richtig gut und vielversprechend ist auch der junge Lukas Zumbrock als Noras Sohn, zumal Kai die Handlung im Vergleich zum ersten Film („Willkommen auf Rügen“) um ein belebendes jugendliches Element bereichert. Außerdem findet er Gefallen an der bunten Praxishelferin Mandy (Morgane Ferru); das reicht zwar noch nicht für eine Romanze, aber immerhin schon mal für ein paar witzige Momente. Romantisch wird es dagegen wie zu erwarten irgendwann zwischen Nora und Matthias.
Das ist alles hübsch anzuschauen, aber auch etwas belanglos; dazu passt auch die entspannte eingängige Musik sowie die diversen Popsongs im Stil Jack Johnsons. Auf diese Weise verpufft selbst die Spannung potenziell dramatischer Momente, als beispielsweise eine junge Frau mit Down-Syndrom an einer verschluckten Murmel zu ersticken droht. Immerhin gibt es einige schöne Drehbuch-Ideen, die für die verschiedenen Handlungsebenen zwar nicht wichtig sind, für die Atmosphäre aber schon, und auch die Figuren sind so gezeichnet, dass sie zur Identifikation einladen. Michael Vershinin, der die meisten seiner Drehbücher unter dem Namen Michael Illner geschrieben hat, verzichtet auf eindimensionale Charaktere; selbst Antagonisten wie der unwirsche Patient (Michael Kind) oder der arrogante Krankenhausarzt (Patrick Heyn) haben ihre guten Seiten. Doktor Heckmann ist schon allein wegen seiner bösen Scherze eine interessante Figur: Angesichts der drohenden Amputation von Matthias’ Fuß verweist der Doktor auf berühmte einbeinige Seeleute wie Long John Silver oder Captain Ahab. Aus diesem gut gespielten Rahmen fällt nur eine Figur, die auch schauspielerisch nicht überzeugt: Die Mutter (Anja Haverland) eines Jungen macht Nora eine lächerliche Szene, weil die Ärztin das Nasenbluten des Kindes nicht ernst genommen hat, und verursacht einen Ein-Frau-Shitstorm auf einer Website für Ärzte-Bewertungen. Die Zielgruppe des Freitagsfilms im „Ersten“ wird das nicht weiter stören, aus ihrer Sicht zählt vor allem die Hauptfigur, weshalb die Besetzung dieser Rolle umso wichtiger ist. Die Art und Weise, wie Wedhorn die Ärztin verkörpert, mag sich nicht wesentlich von der Juristin Katharina aus „Reiff für die Insel“ unterscheiden, aber sie berührt; und dass Noras direkte Art nicht bei allen Insulanern gut ankommt, macht sie nur noch sympathischer.