„Sagen der Lausitz“ heißt der DDR-Klassiker. 1962 herausgekommen, erscheint das Buch inzwischen in der 17. Auflage. Die Sagensammlung erzählt von schlummernden Riesen, schlimmen Zeiten und von Schätzen, die tief in der Erde verborgen sind. „Polizeiruf 110 – Abgrund“ spielt in einem ehemaligen Braunkohleabbaugebiet der Lausitz. Der Fall erzählt von stillgelegten eisernen Riesen, von schlimmen Zeiten, von Toten in der längst „ausgekohlten“ Erde. Am Rand der großen Grube haben die Lebenden keinen Job oder sind längst abgehauen. Zu lange schon flehen gute Feen um Geduld: Am Ende, sagen sie, kommen Touristen und bringen neues Gold. Bis das kommt, wird der Kaffee im Dorfgasthof nicht aus der Siebträger-Maschine serviert, sondern rottet in der Thermoskanne hinterm Tresen dahin. So sieht`s aus, dort wo Adam Raczek (Lukas Gregorowicz) und Vincent Ross (André Kaczmarczyk) im Mordfall einer jungen Geologin ermitteln. Magdalena Nowak wurde im benachbarten Wald erstickt. Der Fall spielt im Dorf und auf der Halde – und ist bis ins Detail fein beobachtet.
Im Besucherbergwerk F60 in Lichterfeld fand Regisseur Stephan Rick („Unter Nachbarn“) starke Motive. Die Kamera-Crew (Felix Cramer) fing sie auf verschiedene Art ein. Drohnenbilder vermitteln im Vorbeiflug etwas von der Gigantomanie der ehemals größten beweglichen Arbeitsmaschine der Welt. In der Totalen verliert der Zuschauer die zwergenhaften Menschen am Boden des Baggers aus dem Blick. Und Kamerafahrten durch das Labyrinth der aufgeschürften Erde zeigen, dass man hier entweder gefangen, ertappt oder verloren ist. Eigentlich hat hier kein Mensch mehr was zu suchen. Es sei denn, er ist Kommissar und die abgerutschte Erde gibt eine Leiche frei. In diesem Fall ist es schon die zweite. Das ändert einiges und führt auf neue Fährten. Auf dem Weg zur Erkenntnis verliert Stephan Rick das Erbe der alten Sagenwelt nie ganz aus dem Blick. Er übersetzt es in modernere Bildsprache, in Reminiszenzen an das ihm wohlvertraute Horrorgenre. Zu Anfang ist es die Nahaufnahme einer blutigen Hand, die sich an einem Baum festkrallt, gegen Ende das von laufenden Ventilatoren zerhackte Licht von draußen oder ein mit subjektiver Kamera gefilmte und von schweren Atemgeräuschen unterlegte Gang durch eine kokelnde Brandruine. Dröhnende Musik braucht es nicht. Aber etwas gruseln kann man sich hier schon.
Im Vergleich zu den visuell sorgfältig herausgearbeiteten Motiven kommt die Krimihandlung mit wenigen Variationen aus. Ein wenig eintönig kann das zwischendurch werden. Auch weil das Ensemble auf exzentrische Typen verzichtet. „Polizeiruf 110 – Abgrund“ bleibt nah an den normalen Leuten. Die Verwerfungen, die der Strukturwandel in der menschlichen Psyche anrichtet, deutet sich in ihren Gesten und Haltungen nur an. Musste Magdalena Nowak sterben, weil ihre Untersuchungen der Zukunft der Dörfler im Wege stand? Handelt es sich um eine Beziehungstat oder war sie einfach zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort? Die Antwort wird sich finden. Im Mittelpunkt der Erzählung steht sie nicht. Eher schon geht es um zwei Kommissare, die nicht zueinander finden. Der eine verstummt zusehends, der andere sagt „Komm in die Hufe“ und plaudert schon auf der Fahrt zum ersten Tatort als hätte er ein Lexikon verschluckt. Der verstummende ist Adam Raczek. Er kämpft gegen Panikanfälle, schluckt Tabletten, hält Weite und Leere dieses Lost Place namens Lausitz kaum aus. Mit Eva (!), die den Dorfgasthof am Laufen hält, schenkt ihm der letzte Fall eine Vertraute und damit etwas Licht am Ende des Tunnels. Auch Vincent Ross versucht, Adam zu helfen. Er erhöht den Druck, um ihn zu einer Entscheidung zu zwingen.
Lucas Gregorowicz spielt die Figur des Adam Raczek seit 2015, zunächst als Partner von Olga Lenski (Maria Simon), seit dem letzten Jahr im Duo mit André Kaczmarczyk. Nach zwölf Ermittlungen verlässt er den Polizeiruf aus Brandenburg auf eigenen Wunsch. Für seinen Abschied brauchte Regisseur Stephan Rick das Profil des Kommissars nicht einzuüben. Rick und Gregorowicz drehten bereits die Folgen „Der Preis der Freiheit“ (2016) und „Tod einer Journalistin“ (2019) gemeinsam. Mit „Abgrund“ gelingt ihnen ein stimmiges Finale. Leider kommt ein unfreiwilliger Abschied hinzu. Fritz Roth, seit 2011 in der Rolle des Polizeibeamten Wolfgang Neumann eine feste Bank im Kripo-Team an der deutsch-polnischen Grenze, starb im April dieses Jahres. Es bleibt André Kaczmarczyk, der als Kriminalkommissarsanwärter Vincent Ross den modernen, gender-fluiden Ermittler gelassen rüberbringt. Die mit Kajal unterlegten Augen nimmt man Ross genauso ab wie das pelzige Drama am Mantelkragen. Zu den äußerlichen Attributen gesellt sich seine Neugier auf die Abgründe im anderen. Schnell hat Kaczmarczyk diesen Vincent Ross zu einem Typen gemacht, auf dessen Entwicklung man gespannt ist. Die Dreharbeiten zu seinem ersten 110-Solo sind bereits abgeschlossen. Die Ausstrahlung von „Polizeiruf 110 – Gott des Bankrotts“ ist für das erste Quartal 2023 geplant.