Plötzlich so still

Friederike Becht, Koffler, Wehner, Lotz. Der Zuschauer fühlt mit und versteht zugleich

Foto: ZDF / Georges Pauly
Foto Rainer Tittelbach

Dem plötzlichen Kindstod folgt ein Kindsraub. Ein Schicksalsschlag wird beantwortet mit der Verzweiflungstat einer überforderten Mutter. Obwohl der betroffene Vater ein profilierter Polizeipsychologe ist, interessiert sich der ZDF-Fernsehfilm „Plötzlich so still“ (Relevant Film) erfreulicherweise wenig für die kriminelle Handlung und den genreüblichen Weg der Überführung der Mutter, die sowohl Opfer als auch Täterin ist. Autor Matthias Wehner und Regisseur Lars-Gunnar Lotz ging es vielmehr vor allem um die Psyche dieser jungen Frau, die verzweifelt versucht, ihr Trauma selbst zu heilen; womit sie allerdings für eine andere Mutter eine Tragödie in Gang setzt. Die schauspielerischen Leistungen von Hanno Koffler und vor allem Friederike Becht – das Gesicht des Films – können nicht genug gerühmt werden. Aber auch die ausschnitthafte Reihung der unfassbaren, aber nie dramatisierten Ereignisse und die sensible, fein nuancierte Inszenierung machen „Plötzlich so still“ zu einem lebensklugen Psychodrama der leisen Töne, das spannend ist, tief berührt & zum Nachdenken anregt.

Eva (Friederike Becht) und Ludger (Hanno Koffler) stehen kurz davor, zum ersten Mal Eltern zu werden. Die Vorfreude auf das Baby wird ein wenig dadurch getrübt, dass Ludger kurzfristig ein verlockendes Angebot, eine Fortbildung beim FBI, bekommen hat. „Du fährst“, hat Eva für ihren zögerlichen Ehemann kurzerhand entschieden, der ganz vernarrt ist in die kleine Sarah, dann aber kurz nach der Geburt die Reise in die USA antritt. Die sechs Wochen werden für Eva zur Tortur. Die versprochene Hilfe einer Freundin (Morgane Ferru) fällt allzu oft aus, und der Schlafmangel zehrt doch sehr an ihr. Dann sind es nur noch zwei Tage, bis Ludger wieder zurück ist. Weihnachten steht vor der Tür, es schneit und die junge Mutter strahlt. Es wird der erste, aber auch der letzte Schnee für Sarah sein. Am nächsten Morgen atmet sie nicht mehr. Unter Schock verlässt Eva das Haus, deckt sich im Drogeriemarkt mit Babysachen ein, wo ihr eine junge Mutter (Nadja Bobyleva) mit ihrem schreienden Baby auffällt. Wenig später hält sie es im Arm. Sie will es nur trösten, doch aus einem Impuls heraus nimmt sie es mit. Für Eva ist das fremde Kind von nun an ihre Sarah. Es stellen sich ihr allerdings bange Fragen: Wie wird Ludger reagieren? Wird er den Unterschied erkennen? Ein weiteres Problem, von dem Eva noch nichts weiß: Ludger soll seine Kollegin (Katharina Behrens) trotz Elternzeit ausgerechnet bei dem Fall um das verschwundene Baby unterstützen.

Plötzlich so stillFoto: ZDF / Georges Pauly
Die erste Szene des Films nimmt den tragischen Höhepunkt vorweg. Dadurch wird keine künstliche Krimidrama-Spannung aufrechterhalten. Das hat der Film auch nicht nötig. Durch die Politik der Emotionen (die Täterin wird als Opfer empfunden) ist der Film ungemein packend, weil man mit der Heldin mitfiebert. „Plötzlich so still“ ist ein gutes Beispiel für die Kraft des filmischen Erzählens und die Bedeutung der Perspektive, die die Empathie lenkt und schon mal über die Moral obsiegen kann.

Ein Schicksalsschlag wird beantwortet mit einer Verzweiflungstat. Dem plötzlichen Kindstod folgt ein Kindsraub. Obwohl der betroffene Vater ein profilierter Polizeipsychologe ist, interessiert sich der ZDF-Fernsehfilm „Plötzlich so still“ kaum für die kriminelle Handlung und den genreüblichen Weg der Überführung der Mutter, die sowohl Opfer als auch Täterin ist. Autor Matthias Wehner und Regisseur Lars-Gunnar Lotz ging es vielmehr vor allem um die Psyche dieser (im Taumel der Hormone) alleingelassenen jungen Frau, die in völliger Überforderung versucht, ihr Trauma selbst zu heilen; womit sie allerdings für eine andere Mutter eine Tragödie in Gang setzt. Nach dem Tod des Babys hat Eva keinen Plan, sie hat weder psychotherapeutische Unterstützung, noch kann ihr der Ehemann beistehen. Natürlich ruft sie ihn an, bringt kaum ein Wort heraus; an dieser Stelle fordert die Geschichte einen dramaturgischen Trick: Ludger feiert gerade Abschied in einem dröhnend lauten Lokal. Beim Rückruf am nächsten Morgen hat Eva das Problem selbst in die Hand genommen. Auch wenn der Film kein Krimi ist, so entwickelt er doch einen Sog, eine Spannung, der sich kaum ein Zuschauer – gleichgültig welchen Geschlechts – wird entziehen können. Man fiebert mit jener Eva mit. Das erste Wiedersehen nach der USA-Reise: Welchen Gesichtsausdruck wird die Heldin zustande bringen? Wird der Ehemann das fremde Kind als Sarah erkennen? Moralisch ist die Tat der jungen Mutter eigentlich verabscheuungswürdig; dennoch ertappt man sich dabei, dass man ihr immer wieder wünscht, dass ihre tragisch-krankhafte Lüge nicht auffliegt.

Plötzlich so stillFoto: ZDF / Georges Pauly
Wird das junge Paar das Kind schon schaukeln? Noch genießen Ludger (Hanno Koffler) und Eva (Friederike Becht) die Zeit als junge Familie, denn Ludger hat jetzt endlich Elternzeit.

Dennoch bewegt sich „Plötzlich so still“ unaufhaltsam auf jene Szene zu, die bereits im Intro andeutungsweise vorweggenommen wird. Eva mit ihrem Baby auf einer menschenleeren Seebrücke an der Ostsee. Hierhin ist die junge Mutter geflüchtet. Es ist Ende Dezember, Grau in Grau der Himmel, der Ehemann, Entsetzen und Verzweiflung im Blick, nähert sich ihr – und er ist nicht allein. Der Zuschauer weiß, an diesem Punkt wird die Geschichte irgendwann ankommen. Es wird nicht erst ganz am Ende sein. Und so wird das Drama, die Tragödie des frühen Ablebens ihres gemeinsamen Kindes, noch einmal in den Mittelpunkt der Geschichte gerückt: Ob das Paar den Verlust gemeinsam betrauert und ob es Hoffnung geben kann für die Beziehung, in der der Mann mit einer doppelten existentiellen Erschütterung umgehen muss, das soll – obgleich im Film nur angedeutet – an dieser Stelle noch nicht verraten werden.

Anders verhält es sich mit den schauspielerischen Leistungen. Die können vorab nicht genug gelobt werden. Hanno Koffler als verständnisvoller und doch nach seiner Rückkehr schwer gestresster Ehemann („Ich erkenne dich nicht wieder“) überzeugt wie gewohnt in diesem intimen Drama der leisen Töne als ganzer Kerl, der so empfindsam sein kann. Das Gesicht des Films aber ist Friederike Becht. Man wird es nicht so schnell vergessen. Gefühlt ist sie die Schauspielerin ihrer Generation, die in den letzten Jahren am häufigsten in Ausnahme-Produktionen zu sehen war. Sie muss feinste Nuancen in ihr Mienenspiel bringen, muss das Lügen, das Spiel im Spiel glaubwürdig hinbekommen, ohne dabei ihre Figur – sprich: deren seelische Verfassung – zu verraten. Hinzu kommen dramaturgische Herausforderungen: Ihre Figur muss glaubwürdig das Baby vor den Blicken ihrer Freunde verstecken. Eine Gratwanderung, die filmisch wie schauspielerisch stimmig gelöst wird. Was bleibt ist die latente Angst der Heldin; aber auch den Betrachter kosten diese Situationen reichlich Nerven.

Plötzlich so stillFoto: ZDF / Georges Pauly
Emotionale Tiefe ja, bedeutungsschwangere Innerlichkeit nein. Und Friederike Becht findet im einstündigen Hauptteil des Films für jede schwierige Situation, die die traumatisierte Frau meistern muss, einen nuancierten, zum Seelenleben passenden Gesichtsausdruck. Zu den zahlreichen Produktionen, in denen die 34-Jährige überzeugt hat, gehören „Westwind“ (2011), „Käthe Kruse“ (2015), „Neben der Spur – Todeswunsch“ (2016), „Die Vierhändige“ (2017), „Parfum“ (2018), „Hartwig Seeler – Gefährliche Erinnerung“ (2019) und „Nachtschicht – Cash & Carry“ (2020). Ihre Eva Ambach ist wohl ihre bislang psychologisch anspruchsvollste, komplexeste Rolle.

Die realistischen Beziehungsszenen zu Beginn des Films sind wunderbare Andockmomente für den Fernsehzuschauer. Junge Paare dürften sich sowohl in den Glücksmomenten wiederfinden; aber auch in den Stresssituationen von Eva und Ludger: der Sorge, dass es dem Kind gut geht, dass es schläft, dass es atmet. Gefühle dürften also schnell beim Zuschauen aktiviert sein. Ohne die richtige Erzählweise könnte sich der Stoff allerdings auch in Richtung Melodram mit Thriller-Elementen entwickeln (so hätte man das im TV-Movie vor zwanzig Jahren gemacht). Doch schon das Drehbuch lässt erkennen, dass es Matthias Wehner um die Stationen eines tragisch-traumatischen Psycho-Dramas geht. Und die Inszenierung setzt dann deutlich weitere Akzente in diese (ernsthafte) Richtung. „Wir wollten die Geschichte schonungslos, schnörkellos und ehrlich erzählen“, sagt Regisseur Lars Gunnar Lotz. Dies ist ihm und den Kollegen aller wesentlicher Gewerke vorzüglich gelungen: Drama pur, unverfälscht, ganz nah dran an (den Emotionen) der weiblichen Hauptfigur; die Situationen ausschnitthaft aneinandergereiht und das Ganze rhythmisch fein & sensibel akzentuiert.

Das Band der Familie, die Freude über den Nachwuchs, wird nach der Geburt in Nahaufnahmen gezeigt, die ungemein „authentisch“ wirken. Nach der Rückkehr stößt Eva Ludger zunehmend vor den Kopf. Jetzt sieht man in Totalen, wie sie sich ihm entzieht. Auch wenn immer wieder die Kamera durch die mit Tropfen versehene Fensterscheiben in das weihnachtliche Familienunheil blickt, schlägt nie die bedeutungsschwangere deutsche Innerlichkeit durch. Die Situation wird von den Schauspielern bestimmt; es sind nur feine inszenatorische Nuancen, die hier ebenso beiläufig wie sinnlich mitschwingen. Und außergewöhnliche Momente bekommen auch außergewöhnliche filmische Lösungen: So entscheiden sich Lotz und Kamerafrau Eva Katharina Bühler nach dem Kindstod für eine dreiminütige Plansequenz (sparsam musikalisch untermalt), in der die Mutter mit dem toten Kind auf dem Arm durch das Haus irrt. In Echtzeit sieht man, wie diese Frau neben sich steht. Man fühlt mit und versteht zugleich. Am Ende des Films kehrt die Geschichte zum Phänomen Kindstod zurück – und die Wirkung ist ganz ähnlich: Tief berührt und nachdenklich wird man als Zuschauer aus diesem sehr beeindruckenden Film entlassen. (Text-Stand: 9.2.2021)

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Fernsehfilm

ZDF

Mit Friederike Becht, Hanno Koffler, Nadja Bobyleva, Morgane Ferru, Katharina Behrens, Idil Üner, Christian Beermann

Kamera: Eva Katharina Bühler

Szenenbild: Iris Trescher-Lorenz

Kostüm: Astrid Möldner

Schnitt: Anton Korndürfer

Musik: Matthias Weber

Redaktion: Solveig Cornelisen, Laura Mae Cuntze

Produktionsfirma: Relevant Film

Produktion: Heike Wiehle-Timm

Drehbuch: Matthias Wehner

Regie: Lars-Gunnar Lotz

Quote: 4,44 Mio. Zuschauer (13,6% MA)

EA: 08.03.2021 20:15 Uhr | ZDF

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