Sie mögen keine höheren literarischen Ansprüche erfüllen, die Bestseller von Sebastian Fitzek, doch seine Ideen sind immer wieder verblüffend. „Passagier 23“ behandelt das Phänomen spurlos verschwundener Kreuzfahrtteilnehmer. Selbstverständlich hängen es die Reedereien nicht an die große Glocke, dass es Menschen gibt, die ihrem Leben auf hoher See ein Ende setzen. Aber die Unternehmen hätten ein noch viel größeres Problem, wenn sich herausstellte, dass nicht alle Opfer freiwillig in den Tod gegangen sind; und das ist der Ausgangspunkt der Geschichte. Hauptfigur ist einer dieser typischen traumatisierten Fitzek-Helden: Polizeipsychologe Martin Schwartz (Lucas Gregorowicz) hat vor fünf Jahren durch ungeklärte Umstände seine Frau und seinen Sohn Timmy auf der Sirius verloren. Eines Tages bekommt er einen Anruf von der Schriftstellerin Gerlinde Dobkowitz (Judy Winter). Sie lebt auf der Sirius und sammelt schon seit geraumer Zeit Material über die mysteriösen Ereignisse. Wenige Wochen zuvor sind erneut eine Mutter und ihr Kind verschwunden, aber nun ist das elfjährige Mädchen, verwahrlost und verdreckt, plötzlich wieder da; und im Arm hat es den Teddy, der einst Timmy gehörte. Der Schiffseigner gestattet Schwartz, an Bord zu kommen und das Rätsel zu lösen. Der Polizist hat sechs Tage Zeit, bis die Sirius in New York anlegt. Die Passage wird eine Reise ins Innere, an deren Ende ihn eine bittere Wahrheit erwartet.
Lucas Gregorowicz ist eine vorzügliche Besetzung für die Hauptfigur, und das nicht nur, weil ein Blick in Martins Gesicht genügt, um zu erkennen: Dieser Mann hat alle Zuversicht fahren lassen; der Anruf der Schriftstellerin weckt eher die Aussicht auf Antworten als neue Hoffnung. Miriam Reichel, Autorin der originellen RTL-Serie „Doc meets Dorf“, hat Fitzeks Vorlage konsequent entrümpelt; im Roman ist Schwartz deutlich düsterer und überschreitet diverse Grenzen. Gregorowicz begnügt sich dagegen, die Figur mit einer tiefen Melancholie zu versehen. Auf diese Weise bewahrt sich der Film-Schwartz genug Empathie, um das von Schiffsärztin Elena (Picco von Groote) versorgte Mädchen (Annallee Ranft) auch als Opfer und nicht bloß als Mittel zum Zweck zu sehen; die Hinweise der weitgehend stummen Anouk sind allerdings äußerst kryptisch. In einer Parallelhandlung verrät der Film, das auch die Mutter (Kim Riedle) noch lebt: Die Frau ist in einer vertikalen Röhre eingesperrt. Ihr Peiniger stellt ihr per Laptop immer wieder die gleiche Frage: Was war das Schlimmste, das du je getan hast? Die furchtbare Tat wird sie erst ganz am Ende gestehen; sie ist auch der Schlüssel zu den anderen verschwundenen Mutter/Kind-Paaren. In diese Reihe gehören zudem die junge Lisa (Mercedes Müller) und ihre Mutter (Liane Forestieri), von denen der Film auf einer dritten Ebene erzählt, ohne vorerst zu verraten, was sie mit der Geschichte zu tun haben. Lisa ist regelmäßig auf einem Suizidportal und will die Reise offenbar nutzen, um sich das Leben zu nehmen; aber auch das ist nur die halbe Wahrheit.
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Alexander Dierbach hat mit Gregorowicz schon die RTL-Serie „Schmidt – Chaos auf Rezept“ gedreht. Zu den weiteren Arbeiten des Regisseurs gehören neben dem „Tannbach“-Mehrteiler nicht zuletzt sechs „Helen Dorn“-Episoden, die zum Teil von besonderer Qualität waren. „Passagier 23“, nach „Das Joshua-Profil“ (2018) die zweite RTL-Fitzek-Adaption, zeichnet sich vor allem durch eine stellenweise eindrucksvolle Montage aus, weil sich im Kopf des Protagonisten regelmäßig die Zeitebenen vermischen. Die Kombination von Rückblenden und Visionen – Schwartz sieht seinen Sohn immer wieder in den Fluren des Schiffs – ist optisch reizvoll. Schon die erste Einstellung, ein unter Wasser treibendes rotes Kleidungsstück, das wie ein bizarrer Meeresbewohner wirkt, ist ästhetisch äußerst ansprechend. Auch später sorgen Dierbach und sein Kameramann Ian Blumers, mit dem er schon oft zusammengearbeitet hat, mehrfach für große Kinoformatbilder, obwohl ein großer Teil des Films im Inneren der Sirius spielt. Darin liegt ein weiterer Reiz des von der früheren RTL-Fiction-Chefin Barbara Thielen (heute Zieglerfilm Köln) produzierten Thrillers: Der Polizist erkundet Bereiche der schwimmenden Kleinstadt, die es im „Traumschiff“ nie zu sehen gibt.
Die vorzügliche Bildgestaltung und die gute Musik (Sebastian Pille) sind das Eine, aber für den Sog, den die Macher von Filmen und Serien stets anstreben, sorgt in erster Linie die konsequente Rätselhaftigkeit der Geschichte, zumal die wenigen Hinweise, die Schwartz dem kleinen Mädchen entlocken kann, neue Fragen aufwerfen. Das ist einerseits sehr geschickt gemacht, weil das Drehbuch raffiniert mit den verschiedenen Botschaften spielt, führt andererseits aber auch regelmäßig in die Irre. Auf diese Weise bleiben diverse offene Enden übrig: Zwischendurch sieht es so aus, als habe Schwartz selbst mit dem Verschwinden von Frau und Tochter zu tun, weil er damals offenbar keineswegs bei einem verdeckten Einsatz, sondern auf dem Schiff war; anscheinend will ihm jemand etwas anhängen. Später „vergisst“ das Drehbuch diesen Verdacht einfach; dabei wäre es interessant gewesen, den psychisch ohnehin angeschlagenen Schwartz noch stärker an sich selbst zweifeln zu lassen. Auch die Scharmützel zwischen Polizist und Schiffseigner verlaufen irgendwann im Sande. Eine ungleich erheblichere Ungereimtheit gibt es jedoch am Schluss, als Schwartz herausfindet, wer hinter dem Mysterium der verschwundenen Mutter/Kind-Fälle steckt. Die Auflösung ist zwar nicht so banal wie in den meisten anderen Psycho-Thrillern, aber der Epilog steht im Widerspruch zum Finale, als Schwartz die gefangene Mutter retten will. Gemessen an dieser Logiklücke sind andere Ungeschicklichkeiten kaum der Rede wert; so muss zum Beispiel die Schriftstellerin dem Polizisten erzählen, was vor fünf Jahren passiert ist, damit auch die Zuschauer im Bilde sind. Die von Judy Winter als extravagante alte Dame verkörperte Frau ist ohnehin eine bizarre Kunstfigur und fällt komplett aus dem Rahmen des Films. Andere Details, die im Roman stimmig sein mögen, sind im Film dagegen überflüssig; es ist für die Handlung völlig irrelevant, dass die Schiffsärztin mit dem Kapitän (Oliver Mommsen) verlobt ist. Unterm Strich sind die 120 Minuten zwar spannend, aber „Passagier 23“ hätte ein noch besserer Film werden können. (Text-Stand: 30.11.2018)