Auf der Spur dreier Ermittler löst „Oderbruch“ ein, was das Anfangsbild aus Leichenberg mit Hirschgeweih verspricht. Headautor Arend Remmers entwirft Phäno- und Genotyp einer vergessenen Gegend. Das Regie-Duo Christian Alvart und Adolfo J. Kolmerer kreiert daraus eine eigene Welt. Der über Nacht aufgetauchte Kadaverhaufen setzt den ersten Marker eines durchgängig gelungenen Set-Designs. Um den Fundort herum entsteht ein improvisiertes Feldlager der Polizei. Zwischen den Stoffbahnen hastig in den Boden gerammter Zeltwände geben schmale Durchsichten den Blick auf die Labore der Spurensicherung frei. Man entnimmt DNA-Proben zur Identifikation der blutleeren Körper. Das Provisorium der ersten Tage wird von spartanisch möblierten Containern abgelöst, in denen die Kripo in den Tagen danach ihre Verhöre auf freiem Feld durchführt. Wie weiße Legosteine liegen die Behelfsbauten im Matsch verstreut. An der Peripherie dieser hingewürfelten Quader streift die Kamera später durch die verwinkelten Räume eines, in einem alten Gemäuer untergebrachten, Internats auf der polnischen Seite des Oderbruchs. Auch das ein Labyrinth aus verbotenen Räumen und heimlichen Blicken durch löchriges Deckengebälk. Rund um das mysteriöse Zuhause ehemaliger Straßenkinder stehen verlassene Höfe in der Landschaft. „Oderbruch“ setzt die Ruinen als gefährliches Terrain in Szene, auf dem Jäger und Gejagte, Kommissare und Verdächtige einander begegnen und bekämpfen. Dazwischen: menschleeres Land, triefende Böden und karge Birkenhaine, die niemandem eine Zuflucht sind. Mitleidslose Natur, die nur sanft schillert, wenn sie auf Regieanweisung in goldenes Licht getaucht wird.
Foto: Degeto / Syrreal / CBS / Erhard
Das goldene Licht schimmert vor allem in den Rückblenden auf die Kindheit zweier Ermittler. Kommissar Roland Voit (Felix Kramer) wurde als Ortskundiger ins Team gebeten. Seine Ex-Freundin Maggie Kring (Karoline Schuch) treibt es nach 20 Jahren aus persönlichen Motiven zurück ins Elternhaus im Oderbruch. Sie hat das Dorf Krewlow 1997 verlassen, nachdem ihr 17-jähriger Bruder Kai der Oderflut zum Opfer fiel. Heute bezweifelt die ehemalige Polizistin all die Tatsachen, an die sich die Kollegen in der aktuellen Mordermittlung klammern.
Dementsprechend schnell gilt sie eher als verdächtig denn hilfreich. Mit Roland verbindet Maggie das Wissen um die Vergangenheit und die Geheimnisse von Krewlow. Stück für Stück füttern filmische Rückblenden den Wissensstand des Zuschauers, ohne alles zu entschlüsseln. Das kostet Zeit, nimmt Tempo raus und zieht den Mittelteil der Serie etwas in die Länge. Elegant und mit stimmigen Überblendungen verzahnt „Oderbruch“ die Geschehnisse aus der Vergangenheit mit dem Jetzt, lässt beide Zeitebenen miteinander interagieren und verschränkt das Damals mit dem Heute. Zuschauer, die mehr auf Krimispannung denn auf „Stand by me“ stehen, werden im Mittelteil also etwas Geduld aufbringen müssen. Dafür machen uns die Folgen mit der Schlüsselfigur Kai und einem weiteren Jugendfreund von Maggie und Roland, dem seit einer missglückten Mutprobe im Rollstuhl sitzenden Adrian Demko (Jan Krauter), bekannt. Das Gegenstück zu diesen Akteuren, die in den Rückblenden an Format gewinnen, ist der polnische Ermittler Stanislaw Zajak (Lucas Gregorowicz). Als einziger im Kripo-Team bewahrt er den Blick für die großen Zusammenhänge. In einer schmalen Kemenate, in der Zajak förmlich von den Wänden erdrückt wird, gleicht er die Vorkommnisse im Oderbruch mit unaufgeklärten Mordserien in allen Winkeln der Welt ab und entwickelt eine Theorie, die der Wahrheit am Ende sehr nahekommt.
Foto: Degeto / Syrreal / CBS / Erhard
Dem Trio Schuch/Kramer/Gregorowicz folgt man gern durch eine Geschichte, die sich nicht ohne Spoiler zu Ende erzählen lässt. Karoline Schuch („Die zweite Welle“, 2023) spielt ihren Part „against all odds“ unbeirrbar, ohne im Verbissenheitsmodus zu erstarren. Felix Kramer agiert zurückgenommen und ist doch immer präsent. Ruht die Kamera auf seinem Gesicht, dann genügen die zwischen dunkel und schwarz changierenden Augen, um den Seelenzustand seiner Figur zu spiegeln. Lucas Gregorowicz wirkt nach seinem Abschied vom „Polizeiruf 110“, mit Schnauzer und Anzug ausgestattet, heller und aufgeräumter als in früheren Rollen. Durch seine Parts in Produktionen wie „Der Pass“ (2018) und „Lauchhammer – Tod in der Lausitz“ (2022) mit dem Mystery-Genre vertraut, agiert er ähnlich gefasst wie Kramer. Das unausgesprochene Vertrauen zwischen Voit und Zajak hält auch über Voits Rausschmiss aus der Soko hinaus. Weitere Hingucker sind Newcomer Julius Gause als Maggies Bruder Kai, Altstar Winfried Glatzeder als Voit senior und Sebastian Urzendowsky, der in kurzen emotionalen Auftritten alles herausholt.
Dass zwei Autoren, zwei Regisseure und zwei Kameramänner teilweise in Doppelfunktion eine gemeinsame Sprache für „Oderbruch“ fanden, liegt sicher an der langen Vorbereitungs-Zeit von der Idee 2018 bis zum Drehstart im März 2022 – und an der vorausgegangenen Zusammenarbeit der Crew für die ZDFneo-Serie Sløborn (2020). Auch die Komponisten Christoph Schauer und Max Filges, Teil der vierköpfigen Musik-Unit von „Oderbruch“, waren schon bei Sløborn dabei. Ihr Score kommt ohne übertriebene Geräusch-Kaskaden aus und beweist vor allem in Horror-affinen Sequenzen, dass weniger oft mehr sein kann.