Neuland

Hartmann, Baumeister, Tander, Sarnau, Orkun Ertener. Fein ziseliertes Sittengemälde

Foto: ZDF / Georges Pauly
Foto Martina Kalweit

Eine Mutter verschwindet. Kinder tun einander Gewalt an. Das genügt, um eine Handvoll wohlhabender Vorstadtpaare in Panik zu versetzen. Die Dramaserie „Neuland“ (ZDF / Odeon Fiction, Berlin) besichtigt bröckelnde Fassaden in einer Welt, die ganz auf Perfektionismus, Harmonie und gegenseitige Hilfe ausgelegt ist. Der Sechsteiler sucht dabei keine Täter, sondern offenbart, wer warum seinen Illusionen oder Ängsten zum Opfer fällt. Sorgfältige Figurenzeichnung und ruhiger Erzählton treffen auf ein großartiges Ensemble, das mit der Darstellung wunder Psychen vertraut ist. Als sehenswerte TV-Zugabe zum alljährlichen Festtagsgedöns schärft „Neuland“ den Blick auf das, was Alltag mit uns macht.

Mama ist weg. Die alleinerziehende Alexandra Brandt ist über Nacht verschwunden. Am Morgen geht ein Beben durch das (fiktive) Vorortstädtchen Sünnfleth. Unter den Müttern der Nachbarsfamilien finden sich schnell willige Ersthelferinnen. Auf Dauer werden sie die Schwestern Lea (Lene Oderich) und Zoe (Aenni Lade) nicht auffangen können. Drei Wochen später kommt Alexandras Schwester an die Elbe, um sich um ihre Nichten zu kümmern. Wie ein Alien läuft Berufssoldatin Karen (Franziska Hartmann), aus Afrika eingeflogen, durch ihre ehemalige Heimat. Ihre Welt hat inzwischen nichts mehr mit pittoresken Elbvororten und quadratischen Neubauvillen zu tun. Auf Hilfsangebote und Ratschläge reagiert sie skeptisch. Ihr Sensorium für Freund und Feind ist durch einen Vorfall in Mali erschüttert. Ihr Trauma trägt Karen im Gepäck, die Flashbacks holen sie immer wieder ein. Dramaturgisch ist das der wichtigste Schachzug von „Neuland“: Die in sich verkapselte Karen blickt auf Sünnfleth wie auf feindliches Gebiet. Nichts muss so sein, wie es aussieht. Es gibt keinen Grund, die Schutzkleidung abzulegen. Karens neue Uniform besteht aus Jeans, T-Shirt und Basecap. Über der Brust trägt sie eine Bauchtasche mit dem Rüstzeug zum Überleben: Tabak und Flachmann, immer nah am Herzen. Sie will nicht bleiben und spürt mit jedem Tag, dass sie bleiben muss.

NeulandFoto: ZDF / Georges Pauly
Die Schwester der Verschwundenen (Franziska Hartmann) muss einspringen. Ihre Welt hat nichts mehr mit den pittoresken Elbvororten und de um sich selbst kreisenden Bewohnern zu tun. Sie ist Berufssoldatin in Afrika. An ihre Nichte Zoe (Annie Lade) ist zunächst kein Herankommen für die heimgekehrte Berufssoldatin.

Das Drehbuch von Orkun Ertener und das Spiel von Franziska Hartmann („Kalt“, 2.11.2022, „Sterne über uns“, 2020, „Über Barbarossaplatz“, 2017) sorgen dafür, dass sich diese spröde junge Frau nicht gleichbleibend roboterhaft durch die sechs Folgen der Erzählung bewegt. Karens Beziehung zu den Erwachsenen ist eine andere als die zu den Kindern ihrer Schwester. Das macht schon die erste Begegnung klar, in der Teenager Lea (intensiv: Lene Oderich) der überforderten Karen hilft, die richtigen Worte zu finden. Innerhalb der neuen Kleinfamilie geht es nicht um Lösungen, es geht um das Aushalten der Situation. Auch erzähltechnisch verschiebt sich da etwas: Das Verschwinden von Alexandra Brandt ist der Auslöser der Geschichte, nicht aber ihr Thema. Außer ein paar Suchplakaten und einer mehr oder minder untätigen Polizei lässt „Neuland“ alles weg, was die meisten Filme und Serien um einen schwelenden Mordverdacht jetzt ausbreiten würden. Es gibt keine Fahndungsaktion, keine großangelegte Suche, keine SoKo-Zusammenkunft. Selbst die Trauer der Kinder ist kaum Thema. Man könnte das als realitätsfern bezeichnen. Wer akzeptiert, dass „Neuland“ einen anderen Schwerpunkt setzt, wird mit einem fein ziselierten Sittengemälde belohnt, in dem sich Risse in einer vermeintlich perfekten Oberfläche in Gräben verwandeln.

„Toleranz und Hilfsbereitschaft zeichnen das Milieu, in dem die Serie angesiedelt ist, ganz besonders aus, aber für manche stellt sich irgendwann doch die Frage, in welcher Distanz oder Nähe man noch tolerant und hilfsbereit sein kann. Um es mit den Worten von Yilmaz, der Figur des Jugendamtsmitarbeiters in der Serie zu sagen: Sie spenden großzügig für die Seenotrettung im Mittelmeer, sie packen Riesenpäckchen mit Teddybären und vergammeltem Spielzeug, sie fluchen im Internet über die Scheiß-Faschos. Aber neben ihrem eigenen Kind, da soll einer wie Rami nicht sitzen.“ (Orkun Ertener, Drehbuchautor)

„Die heile Welt gibt es meines Erachtens nicht, beziehungsweise sie muss/müsste hart erarbeitet werden. Die Statistiken und Zahlen von innerfamiliärer Gewalt und Missbrauch in Deutschland sowohl psychisch als auch körperlich sprechen eine traurige und beschämende Sprache … Es ist kaum zu glauben, aber vor wenigen Jahren gaben in Umfragen 40 Prozent der Befragten zu, ihre Kinder zu Hause körperlich zu bestrafen. Dies ist das 21. Jahrhundert – so viel zu den Fakten, die einer fiktiven Familie Ritter Futter gaben.“ (Anneke Kim Sarnau)

NeulandFoto: ZDF / Georges Pauly
Top-besetztes ZDF-Serien-Highlight zum Jahresende, das bereits ab 14. November in der Mediathek zu sehen ist: Anneke Kim Sarnau, Mina Tander, Franziska Hartmann, Peri Baumeister. Überaus sehenswerte TV-Zugabe zum alljährlichen Festtagsgedöns

Unter der Oberfläche verhandelt „Neuland“ die Verlust- und Existenzängste von Mitt-Vierzigern, die in einer perfekten Welt leben wollen. Einer Welt, so Autor Orkun Ertener „in der der Druck im Kessel steigt“. Der Druck entlädt sich in versteckter Gewalt, führt zu Kontrollverlusten und sprengt verbriefte Bündnisse. Er führt vom postulierten Miteinander im Förderverein der Schule bis zum Überleben in einem brutalen Selbsterhaltungsmodus, der jeden auf seine Weise um sich schlagen lässt. Dieser Sog sucht die Frauen aus Alexandras Umfeld als erste heim. Gemeinhin „Helikoptermütter“ genannt, sorgen sie für das Funktionieren der perfekten Welt und reagieren sofort, wenn sie in Gefahr gerät. Zwei Vorfälle an der Grundschule genügen, um das Mit- und Gegeneinander dramatisch aufzuheizen. Peri Baumeister, Mina Tander und Anneke Kim Sarnau verkörpern drei Prototypen dieser Frauen. Kostümbildnerin Astrid Möldner hat ganze Arbeit geleistet, um jeder ihren eigenen Stil zu verleihen. Sportlich-elegant die disziplinierte Marie (Baumeister), auffallend feminin die Gerechtigkeitsgöttin Sarah (Tander), dezenter Business-Style für die erfolgreiche Verlegerin Anke. Anneke Kim Sarnau legt in dieser Rolle alles Burschikose ab und baut eine perfekte Fassade, hinter der sich die vielleicht tragischste Figur des Trios verbirgt. Während Marie ihre Wünsche gegen die Ängste ihres Mannes (Godehard Giese) verteidigen muss und Sarah neben einem Egoisten (Steve Windolf) lebt, muss Anke befürchten, dass nicht nur ihr Mann (Christian Erdmann), sondern auch ihr Sohn zu unkontrollierbaren Gewaltausbrüchen neigt.

„Big Little Lies“ auf (nord)deutsche Verhältnisse übertragen. Eine Frau verschwindet – und ganz ohne Kommissare nimmt das Leben weiterhin seinen Lauf. Die Sogkraft dieser Ausnahme-Dramaserie resultiert aus den Charakteren und einem dichten Interaktions-Netz, das sich von Folge zu Folge stärker zusammenzieht. Keine Figur, die nicht von Interesse ist oder die nur eine dramaturgische Funktion erfüllen würde. Das Ensemble ist durchweg herausragend, auch die Kinderdarsteller überzeugen. Das ist mit eine Leistung von Regisseur Jens Wischnewski („Tatort – Anne und der Tod“), der für die starke(n) Geschichte(n) ebenso starke Bilder findet: Sie stellen sich in den Dienst der Handlung, sind an den Charakteren orientiert, zugleich kraftvoll und atmosphärisch. (tit.)

Inhaltlich gerafft riecht das nach einer Überdosis weiblicher soft skills gegen toxische Männlichkeit. Entwarnung: All das klingt mit, aber es erschlägt nie die Tonalität, die „Neuland“ ausmacht. Die Kamera fängt ein, was Gesten und Blicke sagen, der Erzählton bleibt ruhig, der extrem sparsame Musikeinsatz reduziert sich fast nur auf den Vorspann. Nach unausweichlichen Zusammenstößen kehrt „Neuland“ immer wieder zu diesem behutsam-empathischen Erzählton zurück. Schon die hellblau eingefärbten Bilder der Vorspann-Sequenzen stimmen darauf ein. Da schlägt Wasser sanft ans Ufer, wiegen sich Gräser im Wind. Die in Nebel gehüllten Naturaufnahmen sind von Flashbacks aus Karens Militäreinsatz in Mali durchsetzt und haben doch etwas Versöhnliches. Sie zeigen eine menschenleere Welt, die nichts anfechten kann. Optisch wie inhaltlich könnte man „Neuland“ hier schon als deutsche Variante der US-Serie „Big Little Lies“ (2017 mit Reese Witherspoon, Nicole Kidman, Laura Dern und Shaylene Woodley) sehen und verstehen. Was keine Schande wäre und der Eigenständigkeit der Dramaserie keinen Abbruch tut. Auf jeden Fall hat Drehbuchautor und Creative Producer Orkun Ertener mit „Neuland“ zu einer neuen Tonalität gefunden. Die Miniserie lebt von einer völlig anderen Stimmung als die, von Ertener 2007 hart an der Blau- und Rotlicht-Realität konzipierten ZDF-Serie „KDD – Kriminaldauerdienst“. Gleichzeitig pflegt „Neuland“ das horizontale Erzählen und vermag zu überraschen. Mit dem, was man am Ende weiß, kann man gleich nochmal von vorn beginnen. Auch die Ausstrahlung an zwei späten Abenden nach Weihnachten passt diesmal besser, als das bei „KDD“ auf dem Derrick-Sendeplatz der Fall war.

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ZDF

Mit Franziska Hartmann, Peri Baumeister, Mina Tander, Anneke Kim Sarnau, Christian Erdmann, Godehard Giese, Steve Windolf, Angelina Häntsch, Serkan Kaya, Lene Oderich, Omran Saleh, André M. Hennicke, Lucas Prisor

Kamera: Jakob Wiessner

Szenenbild: Andreas Rudolph

Kostüm: Astrid Möldner

Schnitt: Falk Peplinski

Redaktion: Axel Laustroer, Kristl Philippi (ZDF)

Produktionsfirma: Odeon Fiction

Produktion: Katja Herzog

Drehbuch: Orkan Ertener

Regie: Jens Wischnewski

EA: 14.11.2022 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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