„Das Schlimmste ist doch jetzt vorbei“, meint der Vater. Der Rest der kleinen Familie sieht das anders. Der pubertierende Nick ist von seinen Mitschülern gedemütigt und misshandelt worden. Die Eltern haben nichts bemerkt. Auch die Lehrer wollen nichts gesehen haben. Also musste Nick seinen ganzen Mut zusammennehmen und die „Sache“ zur Anzeige bringen. „Beete pflegen“ ist die Strafe für die brutalen minderjährigen Täter. Einen Schulverweis fände die Mutter angemessener. Das, was geschehen ist, lässt ihr keine Ruhe. Am liebsten würde sie den Lehrern eine Dienstaufsichtsbeschwerde anhängen. Und das Schlimmste: Es ist noch lange nicht vorbei. Nick soll wieder in die Klasse gehen, in der seine Peiniger warten. Für die Eltern wird der Alltag in der Kleinstadt zum Spießrutenlauf – aber auch der Familienfrieden ist nachhaltig gestört. Und so wird die Zeit nach der Tat zur Zerreißprobe für die ganze Familie.
Foto: WDR / Conny Klein
„Neufeld, mitkommen!“ ist ein lösungsorientiertes Familiendrama, das zeigt, wie das Opfer und dessen Eltern mit der Situation nach den schweren Mobbing-Vorfällen und der Verurteilung der Täter umgehen. Da ist anfangs betretenes Schweigen. Verzweifelt sind sie alle drei, jeder auf seine Art. Der traumatisierte Sohn verkriecht sich, der Vater verdrängt, will in die Normalität zurück, die Mutter begehrt auf, ihre Hilflosigkeit verwandelt sie in Aktionismus, der sie tief hineinreißt in eine emotionale Krise. Schuldgefühle, Ohnmacht und verletztes Rechtsempfinden toben in ihr. Christina Große spielt jenen brodelnden Vulkan, der jeden Moment droht, auszubrechen. Die Schauspielerin spielt sich „authentisch“ hinein in die Seelenlage jener Mutter, die helfen will, aber keine Ahnung hat, wie, und die nicht weiß, wo ihr der Kopf steht: So sagt sie „ja“ und schüttelt dabei wild ihre Mähne. Eine Frau im Ausnahmezustand zwischen stiller Verzweiflung & Handgreiflichkeiten. Stimmig besetzt ist auch der männliche (vernünftige) Gegenpol mit Ole Puppe. Seine Figur des Vaters legt zwar nicht den Finger in die Wunde, aber auch sie leidet und macht sich dunkle Gedanken. Beide Schauspieler, bislang kaum in Hauptrollen zu sehen, treffen genau den angestrebten Alltagston dieses stillen, sensiblen TV-Dramas, das ganz aus seinen Figuren heraus erzählt, und tragen somit maßgeblich mit zur Glaubwürdigkeit von „Neufeld, mitkommen!“ bei.
Klug ist auch die dramaturgische Entscheidung, nicht mit der Tat zu beginnen, sie weder im Einzelnen zu benennen (das geschieht erst nach 55 Minuten), noch irgendwann im Film zu zeigen. So rücken nicht die Taten und die Täter in den Mittelpunkt, sondern das, was die Taten in den Opfern anrichten. Der Film setzt bewusst nicht auf das physisch-dramatische Potenzial der Mobbing- und Quäl-Aktionen und verzichtet weitgehend auf eine klassische Spannungsdramaturgie. Die Geschichte erzählt vielmehr davon, wie schwer es ist, nach solchen brutalen Vorfällen wieder in den Alltag zurückzufinden. So wird „Neufeld, mitkommen!“ zum Psychodrama, das Möglichkeiten zur Befriedung der Konflikte innerhalb der Familie und innerhalb der kleinstädtischen Gemeinschaft aufzeigt. Auch in diesem Punkt siegt der Realismus über die Dramaturgie. Ohne Hilfe Dritter geht es nicht. Eine Psychologin findet nicht nur Zugang zu Nick (im Gegensatz zu seinen Eltern, von denen er sich vielleicht ein Stück weit nicht gesehen und nicht geschützt fühlte), sondern sie ist es auch, die der zunehmend orientierungslosen Mutter einen Perspektivwechsel nahelegt: Sie solle nicht länger im „es hätte nicht geschehen dürfen“ verweilen, sondern sie solle das Geschehene annehmen und sich besser fragen: „Was kann ich tun, dass wir alle drei es gut überstehen“.
Foto: WDR / Conny Klein
Der Film, entstanden nach einer Reportage von Jana Simon, basiert auf einem ähnlichen, realen Fall aus dem Jahre 2002. „Was mich damals am meisten beschäftigt hat: dass anscheinend niemand mit der Familie oder dem Opfer mitfühlen konnte“, so die Journalistin. „Die vorherrschende Stimmung war: die sollten nun aufhören über den Fall zu reden und endlich Ruhe geben.“ Simon und die Autorin Kathi Liers, die gemeinsam am Drehbuch arbeiteten, ging es mit dem Film darum, vielen solcher Fälle im Rahmen eines Fernsehfilms ein Gesicht zu geben, den Zuschauer zu berühren, zu sensibilisieren und zu ermutigen, „sich stark und empathisch für betroffene Kinder und Jugendliche einzusetzen, hin- und nicht wegzusehen“. Bewusst haben sie kein „typisches Opfer“ zu ihrem Opfer gemacht, sondern einen Durchschnittsjungen. Simon: „Wir wollten zeigen, dass es jeden treffen kann.“
Regisseur Tim Trageser („Die Lehrerin“) tat gut daran, für dieses realistische Krisenbewältigungsdrama eine schauspielerdominierte, wenig kunstvolle, ästhetisch eher spröde Inszenierungsform zu wählen. Die Kamera ist ganz nah bei den Figuren, verweilt auf ihren Gesichtern, die Einstellungen sind oft überdurchschnittlich lang. Trageser versuchte, fast ein bisschen dokumentarisch zu arbeiten. Er suchte „glaubwürdige, echte Momente und Stimmungen“ – und wollte deshalb verhindern, „dass die Schauspieler diese Momente für endlos viele Einstellungen wiederholen müssen“. Das Team wurde deshalb verkleinert, dafür nahm er Kompromisse bei der Lichtsetzung in Kauf. Die Probenzeiten wurden verlängert. „Neufeld, mitkommen!“ ist ein alltagsnaher Film, „in dem es in fast allen Szenen um sehr kleine, sehr stille Momente geht, die es mit Ruhe und Geduld einzufangen galt“, so Trageser. Einer dieser Momente ist, wenn der gequälte Junge endlich spricht. Das Warten hat sich gelohnt. „Ich hab mich so geschämt, ich habe gehofft, dass es die Lehrer mitbekommen…“ Nick spricht es aus, atmet auf und der Zuschauer mit ihm. (Text-Stand: 17.3.2014)