„Ich hab‘ manchmal das Gefühl, das Wort Leben, bedeutet: Scheiße bauen“, sagt die aufstrebende Journalistin Elli (Lea Zoë Voss) gegen Ende der sechsteiligen Serien-Dystopie „Nachts im Paradies“ nach der gleichnamigen Düster-Graphic-Novel von Frank Schmolke. Die junge Frau will ein Buch schreiben über die offenbar tragischen Ereignisse der letzten Monate (oder sind es Jahre?). Gleich zu Beginn in der ersten Folge hatte sie bereits „das Gefühl, die ganze Geschichte ist eine riesige Anhäufung von Fehlentscheidungen.“ Dieser Satz ist eine Steilvorlage – und lässt sich auf das ambitionierte Projekt übertragen: Mit dieser Eigenproduktion von Matthias Glasner wollte der Streamer Starzplay anspruchsvoll in den deutschen Markt einsteigen, doch nach dem Rebranding in Lionsgate+ war wenig später der Streamingdienst zumindest hierzulande Geschichte. Canal+ erwarb die Rechte. Jetzt ist die Serie mit Jürgen Vogel und Lea Drinda, die so anders ist als alles, was 2023/24 hierzulande an deutschen Serien produziert wurde, bei MagentaTV zu sehen.
In einer Stadt ohne Namen ist die Hölle los. Vince (Jürgen Vogel), ein ebenso desillusionierter wie sanftmütiger Taxifahrer, dreht hier stoisch seine Runden und begegnet dabei einem Haufen mehr oder weniger gescheiterter Existenzen. Alle scheinen nur noch für den Augenblick zu leben: Party, Drogen, Sex, das große Geld – willkommen im spätkapitalistischen Babylon. In diesem labyrinthischen Albtraum treibt sich auch die 18-jährige Joni (Lea Drinda) herum. Sie ist die Tochter von Vince. 15 Jahre haben sie sich nicht gesehen. Und keiner von beiden weiß, dass auch der andere in dieser Stadt unterwegs ist: der eine, in Zeiten von Uber ein Auslaufmodell und Traumtänzer („bis meine Künstlerkarriere durchstartet“), der andere, zwar jung, aber kaum weniger belastet von dieser Welt, die so hässlich und so grausam ist. Doch dann laufen sich die beiden „auf der Suche nach ihrem wahren Selbst“ über den Weg. Eine Erlösung wird das nicht werden. „Ich bin jetzt da“, sagt Vincent. „Das klingt nicht wie ein Versprechen. Das klingt wie eine fucking Drohung“, erwidert Joni. Und dann verlieren sich Vater und Tochter erst mal wieder aus den Augen. Sie startet als wütende Podcasterin durch, und er entdeckt nach und nach die Rachlust für sich.
Man möchte „Nachts im Paradies“ lieben, diese Serie, die dem Mainstream, dem Krimi, dem Thriller und der stromlinienförmigen Dramaturgie die kalte Schulter zeigt. Und auch wenn das bitterböse Spiel mit den Sehgewohnheiten in der Startepisode den Zuschauer mächtig strapazieren kann, so holt sich die Serie doch immer wieder die Sympathien zurück. Identitätssuche als fieser Alptraum, als Neo-Noir-Apokalypse mit deutsch(sprachig)em Personal, das hat schon was. Jürgen Vogel variiert hier zwar seinen altbewährten Rollen-Typus nur dezent, tappt aber dank der Tonalität seines Charakters weniger in die Klischeefalle als in anderen Filmen. Gegen ihn ist „Frischling“ Lea Drinda das reinste Naturereignis; auch hier spielt sie wie schon zuletzt in der verunglückten Genre-Mixtur „Where’s Wanda“ (Apple TV+) die Prominenz an die Wand. Und alle anderen machen das Beste, was man tun kann: Sie ordnen sich der dunklen, pessimistischen Tonlage der Serie unter. Und so schwirren denn ein Dutzend Charaktere durch Raum und Zeit. Wer einen stringenten Plot erwartet, der braucht gar nicht erst einzuschalten. Diese Geschichte ist sprunghaft, rätselhaft, sie vermittelt sich in narrativen Splittern. Und diese sind vor allem etwas für die Sinne. Neben den beiden Hauptfiguren ist es die Erotik der Inszenierung, über die der Zuschauer den Zugang zur „Handlung“ suchen muss. Score, Kamera, Szenenbild und Montage machen „Nachts im Paradies“ filmisch zu einer Arthaus-Perle.
Es gibt also gute Gründe, diese Serie lieben zu wollen. Und es gibt gute Gründe, weshalb man sie tatsächlich lieben kann. Aber man kann das am Ende der fünfstündigen Serie nicht ganz ohne Reue tun. Nach der Hälfte der Spielzeit sind einige Bonuspunkte aufgebraucht. Vieles erstarrt in Wiederholungen: das Beziehungskarussell, auf dem sich Joni, Elli und Lucia (Malaya Stern Takeda) bewegen, die verzweifelte Suche nach Nähe, die undurchsichtigen Spielchen fast aller Figuren. Es wird zu viel. Zu viel desselben. Erst die letzte Folge schafft es, wieder mehr Interesse zu wecken, für die Charaktere und die Katastrophe, die Tragödie, die in den Interviews angedeutet wird, die die Jungjournalistin mit den Betroffenen führt. Szenen, die in Erinnerung bleiben, gibt es allerdings über die gesamte Spielzeit. Da sind die Taxifahrten mit Vince und der coolen Hure Budur (eine Klasse für sich: Birgit Minichmayr), die mit dem Taxler Ratespiele veranstaltet, mit berühmten Zitaten, gesellschafts- und kapitalismuskritischen – versteht sich. Auch so gut wie jede Szene mit Lea Drinda besitzt irgendein Alleinstellungsmerkmal. Weitere unvergessliche Momente: der Stangentanz von Leonard Scheicher, die Szenen, in denen das menschliche Triebhafte und das Unterbewusste Bild werden; die Szene, in der Vogels kaputtes Auge verarztet wird und in der man ähnlich mitleidet wie bei der Zahnarztfolter im „Marathon-Mann“. Referenzspuren gibt es auch zu „Taxi Driver“ oder zu Kurt Russell in „Die Klapperschlange“. In der ersten Folge hat man, klar, „Sin City“ vor Augen. Mit der Zeit aber kommt dann die besagte Reue. Ein Hauch mehr Spannungsdramaturgie, (noch) etwas mehr Ironie und weniger bedeutungsschwere Sätze, zwei Folgen weniger, dann wäre „Nachts im Paradies“ ein absolutes Serien-Highlight.