Eine Nacht, ein, zwei Stunden, vielleicht nur ein Moment, in der eine Hebamme eine falsche Entscheidung getroffen haben könnte. Wer weiß. Über das Verhalten der erfahrenen Geburtshelferin Emma Hartl (Nina Kunzendorf) muss ein Gericht entscheiden. Als Nebenkläger tritt das Ehepaar Sesha (Friederike Becht) und Peter Hauff (Marcus Mittermeier) auf, deren Sohn bei einer Zwillingsgeburt mit extrem schweren Behinderungen zur Welt kam. Hat die Frau ihre Fähigkeiten überschätzt und somit die Gesundheit und das Leben eines Kindes aufs Spiel gesetzt? Ausgerechnet Emma, diese vorbildliche Hebamme, die sich so hingebungsvoll ihrem Beruf widmet! Sie hat doch die werdende Mutter immer wieder darauf hingewiesen, dass sie keine Zwillingsgeburt vornehmen wird. Auch vor Gericht beteuert sie, dass es „ganz klare Ausschlusskriterien“ für sie gibt – und eine Zwillingsgeburt steht im Risiken-Katalog für Hebammen ganz oben. Aber wie kam es dann zu den tragischen Ereignissen in jener unseligen Nacht? Sesha, die Auskunft geben könnte, schweigt. Und so sieht es im Verlauf der Verhandlung immer weniger gut aus für die freiberufliche Hebamme.
Foto: ZDF / Hardy Spitz
Autor-Regisseurin Gabriela Zerhau folgt in „Nacht der Angst“ der Chronologie der Verhandlung und schiebt die wesentlichen Informationen und emotionalen Verwicklungen nach, die der Zuschauer benötigt, um die Geschichte zu verstehen. Da stehen sich offenbar zwei Seiten unversöhnlich gegenüber, Menschen, die vor wenigen Monaten noch freundschaftlich miteinander verbunden waren. Die verunsicherte, psychisch labile Sesha, Spross einer stets abwesenden Hippie-Mutter, suchte mehr und mehr die Nähe zu Emma, die ihrerseits offenbar nicht das beste Verhältnis zu ihrer eigenen Tochter hat. Diese enge Bindung sahen der Ehemann und seine dominante Mutter mit einiger Besorgnis; nach der Geburt verhinderten sie lange Zeit ein Zusammentreffen der beiden Frauen. Konflikte gibt es aber auch im Geburtshaus, das Emma einst gegründet hat und dessen Existenz durch die horrend gestiegene Haftpflichtversicherung für freie Hebammen gefährdet ist. Eine Kollegin lehnt Emmas idealistischen Kurs deutlich ab; nicht schön, was sie als Zeugin aussagt. Auch der Ausgang des Prozesses dürfte Einfluss haben auf die Zukunft des Geburtshauses. Konkreter noch um viel Geld geht es natürlich auch beim Prozess (Frage ist: Wer übernimmt die Pflegekosten des schwerbehinderten Kindes?), was sich klugerweise erst im Schlussdrittel des Films herauskristallisiert, nachdem die ethisch relevanten Fakten auf dem Tisch sind. Nicht zuletzt aus diesen materiellen Gründen dringt die Anklage beständig auf die Beantwortung der Schuldfrage, der die eigentlich moralisch entscheidende Frage nach der Verantwortung vorausgeht. Klar ist: Verliert Emma den Prozess, ist ihre Existenz vernichtet.
Alle diese Motive, die bei diesem Prozess eine Rolle spielen, in der Handlung unterzubringen, ohne dabei dem Zuschauer das Gefühl zu geben, dass hier überdeutliche Kausalitäten bestehen würden, gelingt Zerhau vor allem durch die Wahl ihrer Dramaturgie. Die Chronologie der juristischen Ereignisse wird zum Teil großflächig von der Vorgeschichte unterbrochen. Der Zuschauer kann sich so die Zusammenhänge selbst „zusammenreimen“. Zweckdienlich ist aber auch die Prozessform. So sorgt das Genre Gerichtsdrama nicht nur für die nötige Finalspannung, sondern diese juristische Kommunikationsform gibt den Fakten, dem sachlichen Diskurs, der Wahrheitsfindung gleichsam eine institutionalisierte Plattform. Sehr wohl ist sie aber auch in der Lage, die Handlung dramatisch aufzuladen und Protagonisten wie Zuschauer zu emotionalisieren. Und weil Polemik und Anklage nun mal zum Rollenspiel vor Gericht gehören, kreidet man diese zum Teil unsympathische Rhetorik in einem Fernsehfilm den Figuren (von wegen klischeehafte Zeichnung) im Gerichtssaal weniger an als anderswo. Will sagen: ein Prozess ist ein guter Ort für die Auseinandersetzung, zu der der Film den Zuschauer einlädt. Dass sich mit dem Fortgang der Handlung die Diskrepanz zwischen sympathisch und unsympathisch beim Zuschauer verstärkt, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass er zunehmend weiß, was Sache ist, und ähnlich ohnmächtig wie die Heldin der Verhandlung folgt. Am Ende dann Hoffen und Bangen auf der Anklagebank wie im Fernsehsessel. Aber es kann nur ein Ende geben – das sagt einem die dramaturgische und emotionale Anlage des Films, das sagt einem das retardierende Moment, das sagt einem die Haltung Zerhaus, die sich gesellschaftspolitisch deutlich auf die Seite der Hebammen stellt, ohne sich aufs „ideologische“ Terrain zu begeben und die „natürliche Geburt“ zu idealisieren.
Foto: ZDF / Hardy Spitz
„Die Geschichte hat so nicht stattgefunden, aber sie setzt sich zusammen aus vielen Erzählungen, die ich von Hebammen gehört habe. Sie sind alle erfahrene Geburtshelferinnen, die sich bald nur noch auf Schwangerschaftskurse und Wochenbettbetreuung beschränken werden müssen oder gleich ganz umsatteln – zum Beispiel, Ironie der Geschichte, auf Sterbehelferin.“ (Gabriela Zerhau)
Dass „Nacht der Angst“ für den Zuschauer dann „gefühlt“ vor allem doch die Geschichte einer einzelnen Person ist, die – am Ende fast an sich selbst zweifelnd – um ihre Reputation kämpft, das liegt selbstredend an der großartigen Nina Kunzendorf. Sie öffnet diesen Charakter in alle Richtungen, macht diese Emma Hartl zu einer sanften, verständnisvollen, besonnenen und durch und durch lebensbejahenden Frau, die nur schwer mit den Vorwürfen umgehen kann, die gegen sie erhoben werden. Der Prozess könnte ihr im wahrsten Sinne des Wortes das Genick brechen. Kunzendorf spielt sie als eine Frau, der zunehmend der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Das Montage-Prinzip des Films ermöglicht es, viele Gesichter der Heldin fast gleichzeitig zu zeigen. Außerdem sieht man, was der Prozess aus dieser Frau macht. Gerade noch jemand, der immer einen klaren Kopf bewahrt und weiß, was zu tun ist, jetzt ein Häuflein Elend, am Rande der Depression („Es ist vorbei“), bald auch mit Wut und Verzweiflung im Bauch. Das von einer Schauspielerin verkörpert, die in vielen ihrer Rollen auf spielerische Distanz setzt und die auch in dieser Rolle durchaus kleine Brüche offenbart, das verleiht diesem Charakter eine große Glaubwürdigkeit (die beispielsweise eine Katharina Böhm, die vor Jahren noch die typische ZDF-Besetzung für diese Rolle gewesen wäre, nicht vermitteln würde). Die Besetzung stimmt insgesamt. Vor allem Friederike Becht, Jahrgang 1986, als Problemfrau zeigt einmal mehr, dass sie zu den Besten ihrer Generation gehört. Mit der Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung steht und fällt letztlich die Dramaturgie von „Nacht der Angst“. Schließlich ist es ihre werdende Mutter, die die Menschen im Gerichtssaal, allen voran die immer verzweifeltere Heldin, auf die Folter spannt und den Zuschauer durch ihr Schweigen in eine Handlung zwingt, deren Konstruktion zwar leicht durchschaubar ist, aber einem emotional keine Chance lässt. (Text-Stand: 31.10.2015)