Mysterium − Staffel 1

Timon Joris Holzmann, Schwab, Drinda, Marcus Roth, Weise. Hinter dem Spiegel

Foto: BR / TV60 Film / Dobrick
Foto Tilmann P. Gangloff

„Mysterium“ (BR, Kika / TV60 Film) ist viel zu gut, um die Serie allein der Zielgruppe des Kinderkanals zu überlassen: Marcus Roth & Niklas Weise, Schöpfer der ähnlich sehenswerten BR-Jugendserie „5vor12“, erzählen in ihrem jüngsten Werk von vier Teenagern, die in einer ausgestorbenen Parallelwelt gefangen sind. Die clever konzipierten, reizvoll verschachtelten acht Folgen lassen lange offen, wie das Quartett in die Spiegelwelt gelangt ist. Das Konzept erinnert an Filme, in denen Kinder oder Jugendliche in ein Video- oder Computerspiel geraten. Der Aufwand von „Mysterium“ ist mit dem einer Kinoproduktion natürlich nicht zu vergleichen, aber das macht die Serie durch Einfallsreichtum und Sorgfalt im Detail wieder wett. Ihr Reiz resultiert ohnehin ähnlich wie einst bei „Twin Peaks“ nicht zuletzt aus der Lust am Miträtseln. Deshalb ist das Ende, das vieles unbeantwortet lässt, eher unbefriedigend.

Die Vorstellung, hinter den Spiegeln existiere eine eigene Welt, ist ein uraltes Motiv des Fantasy-Genres; schon in den Märchenklassikern spielten Spiegel eine ganz besondere Rolle. Das Paralleluniversum, das vier Jugendliche in der BR-Serie „Mysterium“ (produziert für den Kinderkanal) entdecken, ist allerdings nicht zu vergleichen mit der Welt, die beispielsweise Cornelia Funke in ihrer „Reckless“-Saga entwirft. Während der Held dort als Schatzsucher in der Spiegelwelt aufregende und gefährliche Abenteuer erlebt, sind Elif, Leonie, Yussuf und David bloß Gefangene in einer Welt, die ein Spiegelbild ihres gewohnten Daseins ist, wenn auch mit einem entscheidenden Unterschied: Diese Welt ist grau, tot und leer. Sie sind die einzigen lebenden Wesen; und es gibt keinen Weg zurück.

Mysterium − Staffel 1Foto: BR / TV60 Film / Dobrick
Ob vor oder hinter dem Spiegel: Die Welt ist düster. Luca (Timon Joris Holzmann)

Marcus Roth (Idee, Konzept, Drehbuch) und Niklas Weise (Regie) haben vor einigen Jahren mit „5vor12“ erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Die vom BR für den Kika produzierte achtteilige Serie erzählte ebenfalls eine Ensemblegeschichte, in der Teenager mit einer für sie völlig fremden Welt konfrontiert werden, allerdings vor ganz anderem Hintergrund. Die sechs Jungs waren verurteilte Kriminelle, die die Chance bekamen, an einem pädagogischen Experiment teilzunehmen: sechs Wochen auf einer Almhütte ohne Strom und fließendes Wasser. Zwischenzeitlich vermutet auch das Quartett aus „Mysterium“, sein unfreiwilliges Exil sei eine Art Test. Geschickt lassen Roth und Weise lange Zeit offen, wie die vier hinter den Spiegel geraten sind. Die circa zwölf Minuten kurzen Folgen, die gern mit einer Überraschung enden, entsprechen jeweils einem Tag, wobei diese Einteilung nur für den elfjährigen Luca (Timon Joris Holzmann) gilt, denn in der jenseitigen Welt gibt es keine Tage oder Nächte; die Teenager verspüren weder Hunger noch Durst und auch keine Müdigkeit.

Die erste Episode beginnt mit Lucas Ankunft bei seiner Großtante (Charlotte Schwab). Der Junge benimmt sich etwas seltsam und kann schnell ungemütlich werden, wenn sich die Dinge nicht so entwickeln, wie er das erwartet. In seinem karg möblierten Zimmer hängt ein fest an der Wand montierter mannshoher Spiegel. Elif (Safinaz Sattar), Leonie (Lea Drinda), Yussuf (Shadi Eck) und David (Johan Korte) können Luca sehen, sich aber nicht bemerkbar machen. Der Junge spürt zwar, dass den Spiegel eine besondere Aura umgibt, hat aber keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt. Rückblenden verraten, dass Charlotte Elif eine Woche zuvor gebeten hat, das Zimmer zu entrümpeln. Dass man den Spiegel durchqueren kann, hat das Mädchen zufällig entdeckt. Eines Abends hat sie die anderen überredet, sie in die andere Welt zu begleiten; seither stecken sie dort fest.

Das Konzept erinnert an Filme wie „Jumanji“, in denen Jugendliche in ein Video- oder Computerspiel geraten, weshalb das Quartett auch nach einer „Backdoor“ sucht und Hinweisen aufs nächste Level sucht. Der Aufwand von „Mysterium“ ist mit dem einer Kinoproduktion natürlich nicht zu vergleichen, zumal die ersten Episoden fast ausschließlich im Haus spielen. Weise und Roth, der die Serie auch produziert hat, machen das durch akzentuierte Einsätze der sehr präsenten elektronischen Musik (Carlos Cipa, Martin Brugger) sowie durch Einfallsreichtum und Sorgfalt im Detail wieder wett; das zeigt sich vor allem in der spiegelverkehrten Ausstattung und Einrichtung. Auch die Bildsprache unterscheidet deutlich zwischen den Welten, und das nicht nur, weil es im Jenseits nie dunkel wird. Anheimelnd sind allerdings beide nicht: Charlottes Haus ist ein düsterer alter Kasten, und hinterm Spiegel wirkt die Atmosphäre grau und kalt; Farbtupfer gibt es in beiden Welten nicht.

Mysterium − Staffel 1Foto: BR / TV60 Film / Dobrick
Als ob die Farben herausgewaschen wären aus dieser mysteriösen Welt. Charlotte Schwab, Timon Joris Holzmann, Jana Klinge

Ganz ausgezeichnet ist auch Weises Arbeit mit den Mitwirkenden, wobei die jungen Darstellerinnen wie meist in diesem Alter souveräner wirken; Lea Drinda hat bereits als „Babsi“ in der Amazon-Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ beeindruckt. Als Quartett funktioniert das Ensemble allerdings sehr gut. Wie schon in „5vor12“ scheinen die Teenager zunächst gängigen Klischees zu entsprechen, aber mit jeder Episode bekommen die Figuren mehr Tiefe, erst recht im Vergleich zu ihren Pendants: Nach ihrem Verschwinden in der Spiegelwelt existieren die vier weiterhin auch im Diesseits; deshalb vermisst sie niemand. Ihre Doppelgänger sind allerdings ähnlich seelenlose Hüllen wie die Opfer von Invasionsklassikern à la „Die Körperfresser kommen“; es wird kein Zufall sein, dass sie wie eine Allegorie auf das „Smombie“-Phänomen (Smartphone + Zombie) wirken. Der Reiz von „Mysterium“ resultiert ähnlich wie einst bei „Twin Peaks“ nicht zuletzt aus der Lust am Miträtseln, schließlich ist das Publikum – die Serie ist viel zu gut, um sie der Kika-Zielgruppe zu überlassen – genauso ahnungslos wie die vier Jugendlichen: Warum hat Luca keine Großeltern? Ist Tante Charlotte wirklich so unbeteiligt, wie sie tut? Und was passiert, wenn die vier einen Rückweg finden sollten und ihren Doppelgängern begegnen? Weil all’ diese Fragen offen bleiben, ist der Schluss ziemlich unbefriedigend. Der BR plant zwar eine zweite Staffel, aber es wäre nicht das erste Mal, dass ein Drehbuch die Antworten auf eine Fortsetzung vertagt, die dann nie produziert wird. Der Kika zeigt alle Folgen am Stück. (Text-Stand: 16.9.2021)

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Serie & Mehrteiler

BR, Kika

Mit Timon Joris Holzmann, Charlotte Schwab, Safinaz Sattar, Lea Drinda, Shadi Eck, Johan Korte, Jana Kling

Kamera: Ralf K. Dobrick

Szenenbild: Friedrich M. Ngceni

Kostüm: Friedrich M. Ngceni

Schnitt: Nils Landmark

Musik: Carlos Cipa, Martin Brugger

Redaktion: Birgitta Kaßeckert, Stefan Gundel

Produktionsfirma: TV60 Filmproduktion

Produktion: Marcus Roth, Sven Burgemeister

Drehbuch: Marcus Roth – Idee + Konzept: Marcus Roth

Regie: Niklas Weise

EA: 23.10.2021 13:35 Uhr | Kika

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