Meine fremde Freundin

Strauss, Jaenicke, Niehaus, Bühlig/Nocke, Krohmer. Spiel mit Zuschauererwartungen

Foto: NDR / Christine Schroeder
Foto Rainer Tittelbach

„Meine fremde Freundin“ (NDR / Polyphon) ist einer der zugänglichsten Krohmer-Filme, weil er die Zuschauer bei einem „brisanten“ Thema abholt und nah an den Emotionen der Figuren bleibt. Ein Ober-Chauvi gerät am Arbeitsplatz erstmals an die Falsche – und plötzlich steht die Polizei vor seiner Tür. „Keinen pseudoaktuellen Vergewaltigungsfilm“ habe man im Sinn gehabt, so NDR-Fiction-Chef Granderath. Entstanden ist ein Drama der Verfehlungen & der ungeahnten Abgründe, ein Film über eine Frauenfreundschaft und die Macht des Voruteils. Den Diskurs, den der Film anschiebt, darf die Kritik leider nicht führen, um dem Zuschauer eine freie, ungelenkte Seherfahrung nicht vorzuenthalten. Denn in diesem herausragenden Film geht es auch um Wahrnehmung – die der Figuren, aber auch die der Zuschauer. Großes Vergnügen bereitet das mitunter doppelbödige Spiel der wunderbaren Schauspieler, die nicht nur ideal besetzt sind, sondern auch perfekt ihre Beziehungen im Dreieck spielen.

Bei der Neuen im Amt gerät das Chauvi-Ekel erstmals an die Falsche
Keine Stunde im Amt – und schon bekommt die Neue einen Vorgeschmack darauf, was sie hier erwartet. Ober-Chauvi Volker Lehmann (Hannes Jaenicke) nähert sich Judith Lorenz (Ursula Strauss) gleich zum Einstand mit derben Anzüglichkeiten. Sie scheint das gut wegzustecken. Andrea Bredow (Valerie Niehaus) ist sehr angetan von der Art, wie die Kollegin mit Lehmanns sexuellen Anspielungen umgeht, und überhaupt: eine tolle Frau! Die beiden freunden sich an. Später fragt sich Andrea, ob sie nicht eher dem Treiben dieses Mannes hätte Einhalt gebieten müssen. Gesundheitsamt – und so ein schlechtes Klima! Hätte sie nicht eher ihrer Chefin (Johanna Gastdorf), die allzu sehr von den fachlichen Qualitäten ihres Mitarbeiters begeistert war und deshalb seine „Aussetzer“ im Benehmen offenbar nicht sehen wollte, Bescheid geben müssen? Lehmann hat ja gerade erst eine Kollegin aus dem Job gemobbt. Doch nicht mit Judith! Die hat sich entschlossen, dieses Ekel anzuzeigen: wegen Vergewaltigung. Im Aktenraum ist es passiert. Andrea hat etwas mitbekommen davon. Judith war völlig aufgelöst, sie hat sich krank gemeldet und eigentlich nicht vorgehabt, zur Polizei zu gehen. Aber ihre Freundin ermuntert sie zu diesem Schritt. „Wir sind bei dir, du kannst uns vertrauen“, tröstet Andrea – ihr Mann Martin (Godehard Giese) ist schließlich Anwalt – Judith, die kurz vor einem völligen Zusammenbruch steht. Als wenig später die Polizei vor Lehmanns Tür steht, reagiert der gewohnt hochnäsig und lacht die Beamten nur aus.

Meine fremde FreundinFoto: NDR / Christine Schroeder
Begrüßung nach Maß durch den Bürohengst (Hannes Jaenicke). Mit einer groben Anzüglichkeit geht es los. Noch weiß sein Opfer (Ursula Strauss) es zu nehmen.

Spiel mit Zuschauererwartungen, der Wahrnehmung & der Perspektive
„Keinen pseudoaktuellen Vergewaltigungsfilm“ habe man mit „Meine fremde Freundin“ im Sinn gehabt, betont NDR-Fernsehfilmchef Christian Granderath. Zeigen wolle man vielmehr „eine Charakterstudie über menschliche Verfehlungen in einem alltäglichen Milieu ohne Stereotype in der Figurenzeichnung – differenzierte Psychogramme von Menschen mit ihren Abgründen und Irrwegen.“ So verführerisch es auch wäre, sich analysierend und exegetisch auf das feinmaschige Interaktionssystem dieses stofflich hoch dramatischen, aber dennoch mit alltäglicher Leichtigkeit erzählten Films einzulassen – man sollte nicht zu viel vorwegnehmen, da man sonst dem Film ein Stück weit die Spannung nimmt und vor allem dem Zuschauer eine freie, ungelenkte persönliche Seherfahrung vorenthält, die für die „Lust“ an diesem Film äußerst wichtig ist. Was man vornehmlich aus dem Thriller kennt, etablieren die Macher hier für das Beziehungsdrama: das Spiel mit den Zuschauererwartungen. Es geht wie so häufig in Filmen von Regisseur Stefan Krohmer und Autor Daniel Nocke (zuletzt: der launige Dramödien-Revoluzzer „Neu in unserer Familie“) um Wahrnehmung – speziell: Wahrnehmungsprozesse im Alltag. Für diesen Film wurde noch Katrin Bühlig als zweite Autorin verpflichtet; das passt ins Bild: Der weibliche und der männliche Blick unterscheiden sich ja mitunter erheblich voneinander. Außerdem ist sie Expertin für Psychogramme, während es Krohmer/Nocke in ihren Filmen mehr um die Architektur und die Dynamik von Kommunikation geht. Mit der Bedeutung, die die Perspektive in dieser Geschichte spielt, rückt die von Valerie Niehaus verkörperte Andrea zunehmend ins Zentrum. Sie ist das Auge des Zuschauers. Sie beeinflusst und koordiniert das Geschehen, zum Mediator fehlt ihr der Mut und zur Moderatorin wird sie erst, nachdem sie ihre eigenen Fehler erkennt.

Textpassage aus dem Film: Judith über ihre Erfahrung bei der Polizei
„Was die für Fragen gestellt haben: Ob er ein Kondom benutzt hat … Ob er ejakuliert hat. Keine Ahnung, mit welcher Hand er mich festgehalten hat, mir den Mund zugehalten hat, wie er sich ausgezogen hat, wie er in mich eingedrungen ist. Mann, ich weiß das alles nicht. Was glauben die, wie das ist, vergewaltigt zu werden. Du willst nicht die sein, der das passiert. Du willst den Schmerz nicht. Du willst die Scham nicht. Ich bin das Opfer. Ich bin doch kein Gutachter.“

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Judith will sich das Leben von Lehmann nicht zerstören lassen. „Ich will mein Leben zurück. Ich will arbeiten, ich will tanzen, und ich will auch wieder Spaß haben.“

Eine Frauenfreundschaft = „ein System, das sich gegenseitig nährt“
Was für die Interaktionen im Film gilt, das gilt ebenso für die Prozesse, die zwischen Film und Zuschauer ablaufen. Auch der muss sich immer wieder fragen: Wo stehe ich? „Meine fremde Freundin“ ist einer der zugänglichsten Krohmer-Filme, weil er die Zuschauer bei einem „brisanten“ Thema abholt und nah an den Emotionen seiner Hauptfiguren bleibt. Die von Ursula Strauss gespielte Judith ist „ein Unglücksmagnet“, eine Frau, die vom Schicksal ständig geprüft wird und die im Leben immer nur schwarz sieht. Ihre Freundin ist dagegen der absolute Gegenpol, die geborene Helferin, ein etwas naiver Optimist, zum nett sein verdammt. „Ihre Sehnsucht nach Liebe und Nähe sollte sich nur zu Judith hin ausbreiten“, umschreibt Krohmer die Beziehung der beiden Frauen. „Das ist eine richtige Schock-Verliebung; Andrea verliebt sich richtiggehend in das Schillernde, in den Glanz, den Judith versprüht“, sagt Niehaus. Kein Wunder, dass da den ebenso ausgeglichen wirkenden Ehemann (hauchzarte) Eifersucht überkommt. Allein schon, wie diese Frauenfreundschaft dargestellt wird und wie sie im Detail „funktioniert“, wie „ein System, das sich gegenseitig nährt“ (Strauss), das ist faszinierend anzuschauen. Und die unterschiedlichen Motive, die das jeweilige Beziehungsdreieck auszeichnet, anfangs Judith/Lehmann/Andrea, später Andrea/ Martin/Judith, sind präzise herausgearbeitet und werden angenehm unaufgeregt präsentiert. Aufgeregt sind allenfalls zwei der Figuren. Judith, aber auch Lehmann, der bei ihr erstmals an die Falsche geraten ist: Er bleibt weiter im Spiel; mit ihm wird es kein gutes Ende nehmen.

Stefan Krohmer stellt sich oft einen Cast aus prominenten Schauspielern (Auer, Brandt, Waltz, Gedeck, Riemann, Striesow) und eher unbekannten Gesichtern zusammen. Hannelore Elsner in „Ende der Saison“ und Götz George in „Familienkreise“ hat er befreit von ihren Manierismen, „entdeckt“ hat er Anneke Kim Sarnau oder Hans-Jochen Wagner, und zuletzt gelang es ihm, Maja Schöne, die sich rar macht im Film für „Neu in unserer Familie“ zu gewinnen – ein Hauptgewinn! In „Meine fremde Freundin“ ist es die treffende Besetzung der vier großen Rollen, bei denen darüber hinaus jede in den jeweils passenden Relationen zu den anderen Rollen und ihren Schauspielern steht, die die Tonalitäten der drei Akte vornehmlich bestimmt. Bei einem Film, der ein so feines Interaktionsnetz spinnt, voller Interdependenzen steckt, ist dies das A&O.

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Den Antrag zur Güte, kann die immer noch sichtlich tief verletzte Judith nicht annehmen. Ursula Strauss, Henny Reents, Hannes Jaenicke und Valerie Niehaus

Die Vielschichtige, der gebrochene Macho und die Frau von nebenan
Ursula Strauss kann in dem Film ihre ganze Bandbreite ausspielen. Ihre Judith ist ein Mensch, der viele Seiten hat, auch dunkle: Sie kann charmant, witzig und schlagfertig sein, sie bietet dem aufdringlichen Macho anfangs Paroli, dann bricht sie zusammen, ist am Boden zerstört, bevor sie das Leben offenbar wieder genießen kann. Diese Frau ist geheimnisvoll, Strauss spielt sie mit großer Wucht und einer Menge Tränen, verletzlich, bemitleidenswert aber auch barsch. Hannes Jaenicke, der unlängst erst in Dominik Grafs Stammheim-„Tatort“ eine klasse Vorstellung gab, beweist hier, dass er trotz seinen zahlreichen Klischeerollen in den letzten Jahren das diffizile Spiel nicht verlernt hat. Krohmer setzt das (sehr männliche) ambivalente Image des Schauspielers, aus dem sich „eine bestimmte Erwartungshaltung beim Zuschauer“ ergibt, für die Rolle ein, um dieses Image im Laufe des Films zu brechen und das Männerbild zu demontieren. Valerie Niehaus, schon lange nicht mehr das Leichtgewicht, für das sie immer noch einige wegen ihrer Schönheit halten, ist – gemessen am narrativen Konzept – die wichtigste Figur des Films. Aus ihrer Perspektive erleben wir die „fremde Freundin“ und deren Zweikampf mit Jaenickes Lehmann. Sie öffnet dem Zuschauer die Geschichte, leitet dessen Wahrnehmung. „Sie verkörpert etwas Zufriedenes, Offenes, anderen Zugewandtes, aber auch Normales“, so Krohmer. Andrea bringt die Wärme und Herzlichkeit einer Mutter in die Frauenfreundschaft ein, mit ihrer patenten, empathischen Art und ihrem leicht naiven Hang zur heilen Welt ist sie die perfekte Identifikationsfigur für den ebenso normalen Zuschauer. Und Niehaus erweckt genau solch einen Menschen zum Leben – nicht nur ihrer hübschen blauen Augen wegen. Immer eine sichere Bank ist auch Godehard Giese: Als Andreas Mann schleicht er sich in die Handlung, bringt als Anwalt die Verstandesebene in die Interaktionen, sanftmütig und achtsam agiert er vorzugsweise aus dem Hintergrund.

Der Krohmersche Realismuseindruck kommt nicht von ungefähr
Die hohe Emotionalität dieses Films auf der Handlungsebene bindet die Aufmerksamkeit beim Sehen. Da fallen auch dem Kritiker beim einmaligen Sehen Besonderheiten der filmischen Auflösung weniger ins Auge als bei anderen Krohmer-Filmen: beispielsweise bei „Ein toter Bruder“, „Sommer ’04“ oder „Riskante Patienten“. Unübersehbar aber ist die Beiläufigkeit im Spiel, die große Alltagsnähe, ob im Amt oder im Ehebett. Auch die Art, wie Lehmann gleich in der ersten Szene sein Gegenüber sexistisch verbal attackiert, hat etwas Selbstverständliches an sich und spiegelt damit den „ganz normalen“ Chauvinismus am Arbeitsplatz, der offenbar noch immer salonfähig ist. Zum Realismuseindruck des Films gehören auch die stimmigen Locations. Gedreht wurde an Originalschauplätzen, einem leer stehenden Trakt in Hannovers Sozialamt und auch in einer realen Haftanstalt. Und mehr noch. Krohmer: „Die Beamten aus den Stockwerken unter uns haben wir anstatt Komparsen gleich mitspielen lassen, und auch die Wärter und Insassen in den Gefängnisszenen sind echte Wärter und Häftlinge.“

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Fernsehfilm

NDR

Mit Ursula Strauss, Hannes Jaenicke, Valerie Niehaus, Godehard Giese, Johanna Gastdorf, Winnie Böwe, Henny Reents

Kamera: Manuel Mack

Szenenbild: Frank Godt

Schnitt: Eva Schnare

Musik: Sven Rossenbach, Florian Van Volxem

Redaktion: Christian Granderath, Sabine Holtgreve

Produktionsfirma: Polyphon

Produktion: Hubertus Meyer-Burckhardt, Christoph Bicker

Drehbuch: Katrin Bühlig, Daniel Nocke

Regie: Stefan Krohmer

Quote: 5,34 Mio. Zuschauer (17,2% MA); Wh. (2019): 3,90 Mio. (14,5% MA)

EA: 08.11.2017 20:15 Uhr | ARD

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