Endlich mal hat sich Karin (Mariele Millowitsch) auch privat einen Wunsch erfüllt – doch aus dem professionellen Tauchkursus wird nichts. Jetzt heißt es für die so viel beschäftigte Chefärztin vor allem eintauchen in die so rigoros verdrängte Vergangenheit: Zu ihrer Tochter Steffi (Mina Tander) und deren Familie, Ehemann Basti (Simon Schwarz) und Sohn Timo (Erik Linnerud), hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Das soll, das muss jetzt anders werden. Karin hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Ihr Arzt & bester Freund (André Jung) gibt ihr maximal ein Jahr. Das könnte reichen, um die Familiensache zu „reparieren“ – und so steht die einstige Rabenmutter bald mit Sack und Pack vor der Tür des noblen Kölner Eigenheims von Steffi und Basti. Schweren Herzens willigt die Tochter in die Sterbebegleitung ein. Die Verletzungen, die ihre Mutter ihr zugefügt hat, sitzen offenbar tief, aber sie lässt sich davon überzeugen, dass es für beide die letzte Chance ist – für ihre Mutter, um in Frieden zu gehen, und für sie, um in Frieden zu leben. Karin merkt aber recht schnell, dass ihre Anwesenheit durchaus noch zu mehr gut sein kann. Denn mit der Ehe ihrer Tochter steht es nicht zum Besten, Steffi scheint ihr Selbstbewusstsein verloren zu haben und gegenüber ihrem Sohn lässt sie mehr die gestrenge Lehrerin als die liebende Mutter raushängen. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. In dieser Familie wurde nie viel geredet. Das muss jetzt anders werden!
Die Geschichte von „Mama geht nicht mehr“ auf ihren thematisch-moralischen Kern verdichtet, liest sich wie ein schwerblütiges Drama, der ultimative Herbst-Fernsehfilm, eine Art Sterbebegleitung für Anfänger. Der Film von Vivian Naefe beginnt jedoch ganz anders. Mariele Millowitsch begegnet einem vor der Diagnose als strahlende Heldin, die auch danach ihre pragmatische Zuversicht nicht ablegt. Ihre Kinderärztin hat offenbar gelernt, mit ihren Gefühlen sachlich und klar zu verfahren, und sie ist auch in der Lage, mit sich selbst im Angesicht des Todes rasch und schonungslos ins Gericht zu gehen. Gelegentlich mischt sich etwas Galgenhumor in ihre pointierten Bemerkungen – auch wenn der Adressat dafür vor allem der Zuschauer ist, so passt diese unsentimentale Kaltschnäuzigkeit gleichsam auch gut zu dieser Frau, die selbst noch kurz vorm Tod mitten im Leben steht. Was in der ersten halben Stunde des Films dagegen weniger überzeugt, sind die aufgesetzt komischen Momente, Situationen in der Schule mit Problemkind Timo, unpassend auf gewitzt getrimmte Dialogwechsel oder Uraltgags (der behandelte Arzt ist der Dreist-Parker, den die Heldin kurz zuvor noch verbal zusammengefaltet hat), die in der Tonart so gar nicht passen wollen zu dem existentiell Verhandelten. Da fragt man sich, ob hier die Sterbegeschichte bloß zum Zwecke der erzählten Familiengeschichte eingebaut worden ist, um den Plot mit der nötigen Fallhöhe zu versehen. Und weil die konträren Tonlagen nebeneinander stehen, fungieren öfter Songs als Stimmungsbarometer: Wenn Adele ihr „Hello“ anstimmt, weiß man, jetzt wird es gefühlig oder gar tieftraurig. Dramaturgisch ist der Film auch in der zweiten Hälfte eher Mittelmaß. Nichts gegen den Lösungsimpuls und den ausgestellten Optimismus solcher Geschichten; was jedoch nervt, sind Wendepunkte mit Ansage, auf die Stefan Kuhlmann & Murmel Clausen nicht verzichten: Gerade scheint alles gut zu werden zwischen der biestigen Steffi & ihrem Fremdgeher-Gatten, da steht plötzlich die Affäre wortwörtlich im Raum.
Beim Sehen von „Mama geht nicht mehr“ dürfte das jene Zuschauer, die diesem Film gerne folgen (und das fällt nach rund 30 Minuten nicht schwer), kaum stören. Denn die zweite Hälfte steht dann immer mehr im Zeichen des Todes. Je näher es ans Sterben geht, umso stärker wird der Film. Der Tod sorgt nun für eine homogene Stimmungslage, die Naefe und ihre Autoren zu Beginn nicht gefunden haben. Die Krankheit übernimmt quasi die Regie. Dennoch übertreiben es auch jetzt die Macher nicht mit der Schwermut der Geschichte. Natürlich gibt es zwei, drei Momente oder Sätze („Wenn du nicht die Größe gehabt hättest, mir zu verzeihen – ich würde einsam und verbiestert sterben“), die extrem am Wasser gebaut sind, sie muss es geben, und sie sind eindrucksvoll, aber nie zu lang. Das ist überhaupt ein wesentliches dramaturgisches Prinzip des Films, das aufgeht: die extremen Tonlagen werden deutlich angespielt, aber nie ausgespielt. Das ist gerade bei den Situationen, in denen das Sterben thematisiert wird, so wichtig, da sonst das Drama übermächtig und das Schwere alles andere erdrücken würde. Aber darum geht es ja unter anderem auch in der Handlung: Der Tod soll dem Leben eine neue Perspektive weisen; im Angesicht des Todes relativieren sich die Probleme des Alltags – das alles schwingt mit in dieser Geschichte, die vor allem sehr konkret erzählt, wie die Sterbende den Lebenden die Augen öffnet. Das bleibt angenehm kitscharm, ist ganz im tough-pragmatischen Stil der Hauptfigur gehalten. Guckt, was noch möglich ist in eurer Ehe, wäre wohl ihr Rat. Je schwächer die Sterbenskranke wird, umso weniger redet sie ihrer Tochter in deren Angelegenheiten rein. Nur die Sache mit dem Sohn klärt sie noch auf ihre sehr direkte Art: Aber spätestens als sich Timo aus Solidarität mit der Großmutter den Kopf kahl rasiert, erkennt auch die Mutter, was für ein sensibler Junge hinter ihrem übergewichtig-nerdigen Teenagersohn steckt. Eine Erkenntnis gibt es am Ende auch für den Kritiker (und vielleicht auch einige kritische Zuschauer): So wie die beiden Frauen die Ernte ihrer Beziehungsarbeit einfahren, so „lernt“ man als Zuschauer, dass es nicht verlorene Liebesmüh war, dem Film nach dem etwas unrunden Start eine zweite Chance zu geben. Sonst hätte man verpasst, wie uneitel ganz im Gestus ihrer Rolle Millowitsch ihre Sterbende zu Ende spielt, und wie die frustrierte Tochter ihre Strenge und Biestigkeit nach und nach ablegt. Und man hätte auch verpasst, Mina Tanders lange Zeit hinter Trotz versteckte Schönheit so wunderbar von innen heraus strahlen zu sehen. (Text-Stand: 14.10.2016)