Lola Lachmann (Tabea Hanstein) hat einen Fleck am Hals, den jeder sehen kann. Das ist ihr ein bisschen peinlich, aber sie steht dazu. Dabei könnte sie ihn ganz leicht beseitigen, denn es handelt sich nicht etwa um ein Muttermal: Sie hat ihren Hals seit zwei Jahren an dieser Stelle nicht mehr gewaschen, denn hier hat ihr Vater sie zum Abschied geküsst. Seither wartet sie auf seine Rückkehr. Als Filmstoff ist das auf den ersten Blick weder neu noch originell; analog zu den gesellschaftlichen Verhältnissen gibt es eine Menge Geschichten über Kleinstfamilien, die nur noch aus Mutter und Kind bestehen. Aber Thomas Heinemanns großartiger Film „Lola auf der Erbse“ steckt voller Überraschungen, und eine davon ist das zentrale Erzählmotiv. Natürlich spielt die Abwesenheit des Vaters eine große Rolle, aber dann schiebt sich mehr und mehr ein Schicksal in den Vordergrund, dass ähnlich existenziell ist: Lola freundet sich mit Rebin an, einem gleichaltrigen kurdischen Jungen, der sich merkwürdig benimmt. Schließlich stellt sich heraus: Er hält sich mit seinen Eltern illegal in Deutschland auf; die Familie lebt in ständiger Angst davor, entdeckt und ausgewiesen zu werden.
Beide Erzählebenen sind wie geschaffen für ein Drama, doch Heinemann (Buch, Regie und Produktion) gelingt das Kunststück, die Geschichte als ungemein sympathische Freundschaftskomödie zu inszenieren. Die Grundstimmung des Films ist dank vieler komischer Szenen aller Dramatik zum Trotz von ansteckend guter Laune; dennoch wird der Ernst der Lage nie bagatellisiert. Und doch ist „Lola auf der Erbse“ in erster Linie wunderbare Unterhaltung, was zu gleichen Teilen am imposanten Handlungsreichtum wie auch an der vorzüglichen Führung gerade der jungen Darsteller liegt. Lolas Zuhause ist zudem der perfekte Spielort für einen Kinderfilm: Das elfjährige Mädchen lebt mit seiner Mutter Loretta (Christiane Paul) auf einem kunterbunten Hausboot; für das liebevolle Produktionsdesign hat der Regisseur persönlich gesorgt. Als Loretta ihrer Tochter eines Tages ihren neuen Freund Kurt (Tobias Oertel) vorstellt, muss sich das Mädchen der Tatsache stellen, dass die Familie nicht mehr zusammen finden wird. Heinemann hat dafür ein ebenso schönes wie trauriges Bild gefunden: Allabendlich wird ein Foto des Vaters lebendig und singt Lola in den Schlaf. Eines Tages hat er den Text vergessen, und später wandert er nach hinten aus dem Bild.
Während die Qualität der Profis nicht weiter überrascht, sind die Leistungen der Kinder umso beeindruckender. Die junge Tabea Hanstein ist in ihrer ersten Filmrolle schlicht famos, zumal sie die Ereignisse zwischendurch immer wieder direkt in die Kamera kommentieren muss. Auch Arturo Perea Bigwood (als Rebin) ist gut geführt. Gleiches gilt für die erwachsenen Darsteller, zumal sie dank Heinemanns Anleitung den Fehler vermeiden, dem Affen Zucker zu geben. Einzig Antoine Monot Jr. darf sich als gehässiger Spießernachbar wie ein typischer Kinderfilmschurke aufführen, aber in seinem Fall entspricht das der Rolle. Nicht zu unterschätzen ist auch der Anteil der auf CD erschienenen mitreißenden Musik von Frankie Chinasky, die ganz erheblich zum Charme dieses wunderschönen Familienfilms beiträgt.