Ein freundlicher Junge radelt grüßend durch das sonnige Fjaerland, ein norwegisches 500-Seelen-Dorf. „Hallo Henrik“, rufen und winken die Bewohner freundlich zurück. Henrik, der Sonnenschein-Junge, hat eine seltene Form von Autismus. Seine Mutter Pernille hat ihn die 30 Jahre seines Lebens keine Minute aus den Augen gelassen. Doch ein Treppensturz stellt das liebevolle Arrangement plötzlich in Frage. „Das ist Teil des Lebens – irgendwann müssen die Kinder für die Eltern da sein“, bekommt die ältere Tochter Pernilles von einer Kollegin zu hören.“ Im Falle der Sörenbrandts ist das alles nicht so einfach. Die Mittdreißigerin Annika hat nicht viel von ihrer Mutter gehabt. Zuletzt sah sie sie mit 11 Jahren. „Mutter muss wieder nach Hause“, diese Worte hat Annika, die bei ihrem Vater aufgewachsen ist, noch heute im Ohr. Sie wusste nicht, weshalb die Mutter wieder so dringend nach Fjaerland zurück musste. Geblieben ist eine tiefe Verletzung.
Der Wert guter TV-Dramen liegt oft darin, Gefühl und Verstand zu synchronisieren, während es guten Melodramen gelingen sollte, die Emotionen zu ästhetisieren und den Zuschauer in ein Bad der Gefühle zu tauchen, aus dem er im Idealfall kathartisch erfrischt hervorgeht. Die Genres der Gefühle in ihrer anspruchsvollen Variante sind ohne den aktiven, den zur Transzendenz bereiten Zuschauer nicht denkbar. Den deutschen Autoren und Regisseuren liegt die sachliche Analyse mehr als die lebenskluge Emotionalität. Dem Fernsehfilm „Das Ende der Eiszeit“ gelingt eine hierzulande höchst seltene Mischform. Es ist kein Zufall, dass ein weiteres Glanzstück dieser Genre-Mixtur aus den letzten Monaten (neben „Das Haus ihres Vaters“) der Zweiteiler „Der kalte Himmel“ ist – auch ein Film um das Phänomen Autismus.
Foto: Degeto / Hardy Spitz
Der dritte Film aus der Reihe „Liebe am Fjord“ ist gut fotografiert, vermittelt viel von der Aura seiner Schauplätze, die Landschaft spiegelt also nicht nur wie im guten Melo das Innenleben der Figuren, die Landschaft macht auch etwas mit ihnen. Jörg Grünler arbeitet präzise mit Stimmungen, ohne in Befindlichkeitskitsch abzudriften. Die 90 Minuten bestechen durch konzentrierte Zweier-Gespräche, durch eine Kombination aus Alltagsverhalten und großer Wahrhaftigkeit des Verhandelten. Die Mutter spricht und denkt wie eine intellektuelle Frau von gestern, die Tochter verkörpert den modernen, aufgeklärten, globalisierten Lebensstil. Und das Spiel ist einfach exzellent. Senta Berger spielt leise in sich hinein – sie verkörpert Pernille als intelligente, verunsicherte Frau, der sich das Dilemma ihres Lebens sichtlich in ihren Körper eingeschrieben hat. Sandra Borgmann darf sich durch alle Nuancen des Gefühlslebens eines jungen, modernen Menschen spielen. Und einen erwachsenen Autisten glaubhaft darzustellen, gehört sicher nicht zum Leichtesten für einen Schauspieler: Respekt vor der Leistung von Thure Lindhardt.
Ein Melo-Drama ohne einen einzigen störenden Dialog – das ist ein kleines Wunder! Und dieses Wunder hat in erster Linie etwas mit dem guten Drehbuch von Martin Rauhaus zu tun. Dieses Kammerspiel mit Landschaft lebt ganz stark von der Kraft der Worte, die nach und nach die Gefühlsebene der Geschichte etablieren. Und so berührt der Film ohne eine Spur von Überwältigungsdramaturgie, ohne musikalische Emotionssoße. „Das Ende der Eiszeit“ ist ein Melo-Drama aus dem Geiste eines poetischen Realismus’, der ein bizarres Land, eine seltsame Krankheit und schmerzvolle Erfahrungen in eine heilsame Geschichte einwebt.