Der Lungenkrebs, ein Leichenwagen & das Leben
Mit 66 Jahren fängt das Leben erst an. Von wegen. Ausgerechnet dieser Schnapszahl-Geburtstag ist das Ende vom Lied für Horst Kierspe – und eines Lebens, das die letzten 30 Jahre von Trauer, Frust und unguter Wehmut ge(kenn)zeichnet war. An seinem Geburtstag vor 30 Jahren verunglückten er und seine Frau – sie starb, er ein Stück weit auch, jedenfalls vergaß er fortan zu leben. Am Möhnesee im Sauerland schlug er – gemeinsam mit seinem einzigen Freund, dem sehr viel mehr dem Leben und den Frauen zugeneigte Johann – seine Zelte auf. Tochter Lisa gab er zu den Großeltern. Eine Karte zu seinem Geburtstag ist seit Jahren das einzige Lebenszeichen von ihr. Als die Karte dieses Jahr nicht kommt, weil Lisa offenbar im Krankenhaus liegt, fährt er besorgt nach Frankfurt. Aber nicht sie, sondern er, Horst, ist der Patient – und die Diagnose ist niederschmetternd: Lungenkrebs im Endstadium. Für den Todgeweihten gibt es jetzt nur eines: weg aus der Stadt, weg aus der Klinik, zurück an seinen geliebten See. Und damit sie zwischendurch noch etwas erleben – klauen er und der mit Schrotflinte herbeigeeilte Johann einen Leichenwagen und den Enkel gleich mit.
Der Tod ist ein (verdrängter) Teil des Lebens
„Diese Geschichte hat beschissen angefangen und sie wird definitiv kein gutes Ende nehmen“, sagt Elyas, der Sohn von Lisa, der ein Stück weit zur (etwas anderen) Versöhnung zwischen Tochter und Vater beitragen wird. Das Road-Movie „Letzte Ausfahrt Sauerland“ erzählt von der letzten Reise, von einem Kurztrip, der vom Leben in den Tod führen wird. Die Reisenden sind zwei „alte Säcke“ und ein 17-Jähriger, der seine Kindheit und Jugend wie seine Mutter vaterlos verbringen musste. Ziel ist es, die letzten Dinge zu ordnen, Missverständnisse zu klären, sich lebendig und einigermaßen im Reinen mit sich und seinen Liebsten vom Dasein zu verabschieden. Der Tod ist ein Teil vom Leben – der Film von Nikolai Müllerschön („Hochzeiten“) nach dem Drehbuch von Mathias Lösel und Markus B. Altmeyer macht ernst mit dieser Erkenntnis, deren Verdrängung offenbar genauso zum Leben gehört. Doch die Einschläge kommen näher – auch und gerade bei der Zielgruppe des ARD-Degeto-Films am Freitag. Weshalb also nicht einmal eine fiktionalisierte Sterbebegleitung, die offen ist für beide Seiten: für das Verdrängen (ja nur Film!) wie für das sich nachdenklich stimmen lassen.
Die Allgegenwart des Todes in den Medien ist Teil seiner Verdrängung:
Vielleicht sind ja auch das massenweise Sterben im TV-Krimi und im medial vermittelten Kriegs- und Krisengeschehen (und die Neugier darauf) ein Ausdruck der Verdrängung des Todes. Medientote müssen uns nicht kümmern, sind weit weg – räumlich in den Nachrichten, fiktional im Krimi. Der Tod sind die anderen.Das tragikomische Road-Movie „Letzte Ausfahrt Sauerland“ wurde produziert und entwickelt von der Firma filmpool fiction. Die Produzentin ist Iris Kiefer.
Verhaltener Film, stille Figuren, private Probleme
„Letzte Ausfahrt Sauerland“ lenkt nicht von seinem wesentlichen Thema, dem Sterben, ab und verzichtet auf übermäßige Rührseligkeiten. Hauptverantwortlich dafür sind die Charaktere und deren Darsteller. Bei aller Kauzigkeit der beiden eigenwilligen Anti-Helden und aller Skurrilität der Ausgangslage herrscht in der Geschichte insgesamt und zunehmend ein leiser, reflektierender Ton vor. Die Situationen sind nie zu sehr auf Pointe gebürstet – im Gegenteil: ein bisschen mehr Biss und Wortwitz hätte man sich gelegentlich schon von diesen sozialen Aussteigern gewünscht. Schade auch, dass das Leben wieder einmal nur von privaten Schicksalsschlägen bestimmt wird. Gerade bei dieser Drei-Generationen-Geschichte wäre es – Degeto hin oder her – nicht verkehrt gewesen, wenn man die Biographien deutlicher mit gesellschaftlichen Positionen und Haltungen, die über den Genuss eines Joints oder Biers hinausgehen, unterfüttert hätte. Die Ausgangslage mit dem Enkel als Vertreter der heutigen Jugend wäre dafür schon mal eine gute Voraussetzung gewesen. Der Karriereplan des Enkels („Macht man das heute so“) ist das Einzige, in dem gesellschaftlicher Wandel deutlich wird. Selbst die Drogen-Initiation des Jünglings läuft unspektakulär im Hintergrund ab. Für einen Film, dessen Ende man kennt, ist der Weg das Ziel. Vielleicht hätte man sich noch etwas mehr, neben Berührendem wie einem Dialog im Bordell („und plötzlich ist die Zeit vorbei“) auch Skurriles und Tragikomisches, gewünscht. Die allgemeine „Verhaltenheit“ des Films, diese stille Lakonie – darin ist er deutlich ein Spiegelbild seiner Hauptfigur – ist andererseits, wenn man sich als Zuschauer erst einmal darauf eingelassen hat, eine gute Vorlage für zwei Schauspieler, die sich nichts mehr beweisen müssen und so überaus nuanciert und sensibel ihre – trotz des Todes im Gepäck – grundentspannten Rollen spielen können. Altersrollen nennt man das wohl. Der gern unterschätzte Heiner Lauterbach und TV-Grandseigneur Friedrich von Thun, der häufig zu ähnliche Rollen spielt und sich entsprechend in seiner Art des Spielens oft wiederholt – hier sieht man die beiden in für sie ungewöhnlichen Rollen.
„Typisch deutsches“ Sauerland meets Americana
Eine Tragikomödie wie diese ist eine Rarität im deutschen Unterhaltungsfernsehen. Ein Mann legt sich den Tod zurecht. Mit dem Leichwagen, später umfunktioniert zum Cabrio (eine Replik auf die tote Elisabeth, die immer von einem offenen Wagen träumte), klappert er mit Freund und Enkel einige Stationen seines Lebens ab. Praktischerweise ist auch ein Sarg schon mit an Bord – und in der Nacht liegt er ihn schon mal Probe. Dazu gibt es Mollton-gefärbte Songs von Bob Dylan und immer wieder Johnny Cash. Freundschaft wird am Lagerfeuer beschworen und auch ein Gewehr ist immer dabei bei diesem Sauerland-Blues. Und obwohl es Vieles zu klären gibt, kann man auch mal schweigen – die beiden alten Männer sowieso. So allgegenwärtig das Thema Tod auch sein mag – „Letzte Ausfahrt Sauerland“ lässt sich durchaus auch „nur“ als relaxtes, melancholisches Road-Movie sehen, das freilich in Hinblick auf den Freitagabend ein paar Kompromisse eingehen muss, aber letztlich ein sehenswerter Versuch ist, das gute alte „Americana“ mit der „typisch deutschen“ Kultur kurzzuschließen.