Es ist kein Zufall, dass der Zweite Weltkrieg seit einigen Jahren so oft zum Spielfilmthema wird: Die Enkel setzen sich mit den Erlebnissen ihrer Großeltern auseinander. Weil nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer jahrzehntelang geschwiegen haben, sind die Tragödien nie verarbeitet worden und belasten nun wie ein Wiedergänger aus einem Horrorfilm auch die dritte Generation. „Leanders letzte Reise“ von Nick Baker-Monteys ist womöglich einer der letzten Filme, der seine Geschichte fast in der Gegenwart ansiedelt: Nach dem Tod seiner Frau macht sich der 92jährige Eduard Leander (Jürgen Prochnow) auf den Weg in die Ukraine, um dort seinen Frieden zu finden. Begleitet wird er, wenn auch eher unfreiwillig, von Enkelin Adele (Petra Schmidt-Schaller). Im Verlauf der Reise erfährt sie nach und nach die Geschichte ihres Großvaters. Nun wird ihr klar, warum der Alte stets so mürrisch war: weil er kein richtiges Leben im falschen führen wollte.
Eduard war als Hauptmann während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine stationiert, er hat gemeinsam mit den einheimischen Kosaken gegen die Russen gekämpft und dort auch Swetlana, seine große Liebe, kennengelernt. Doch der Kampf ging verloren; das Paar landete in verschiedenen sowjetischen Arbeitslagern und hat sich nie wieder gesehen. Die Ehe zwischen Eduard und seiner späteren Frau war eine reine Zweckgemeinschaft. Da sich der ohnehin nicht eben gesprächige Großvater ansonsten über seine Zeit in der Ukraine ausschweigt, rückt für Adele immer stärker die Frage nach seiner Schuld in den Vordergrund. Swetlanas Familie empfängt ihn mit offenen Armen, die Menschen verehren ihn. Ohne Eduard, sagen sie, würde es sie alle nicht geben, und sie wissen gar nicht, wie Recht sie damit haben. Aber war er Held oder Mörder? Oder ist die Antwort nur eine Frage der Perspektive?
Kritiken zum Kinostart:
Krude und improvisiert wirkt „Leanders letzte Reise“ von den ersten Szenen an. Zugleich ahnt man als Zuschauer, dass alles an dieser Geschichte mit doppelter Bedeutung, mit schuldhafter Verstrickung und geheim gehaltener Familien-Geschichte aufgeladen ist. Die Kombination irritiert, aber aus ihr entsteht auch eine Spannung, die den Film angenehm anders macht als die Aufarbeitungsdramen, die man sonst so kennt. Das Thema vom deutschen Wehrmachtssoldaten, der an der Ostfront die hässliche Seite der Nazikriegsführung mitgestaltet hat, kontrastiert Baker-Monteys mit den Vorgängen in der sich 2013 im Aufstand befindenden Ukraine. (…) Der Vergleich von damals und heute, von den komplizierten Verhältnissen des Zweiten Weltkriegs zwischen Deutschen, Kosaken und Sowjets zu den heutigen, ebenfalls komplexen zwischen Europa, der Ukraine und Russland, geht an keiner Stelle richtig auf, aber es ist auch gut so. (epd film)
Schuld-und-Sühne-Drama, dem es gelingt, ein weitgehend differenziertes Bild des Ukraine-Konflikts zu zeichnen; die interessanten Widersprüche der ukrainischen Gegenwart geben allerdings nur den Hintergrund für ein Familiendrama ab, dessen Wurzeln in der deutschen Vergangenheit liegen. (film-dienst)
Diese Ebene allein bietet schon mehr als genug Stoff für einen Spielfilm, aber Baker-Monteys rückt in seiner zweiten Regiearbeit nach „Der Mann der über Autos sprang“ einen weiteren Aspekt in den Mittelpunkt: Die Handlung spielt 2014, die Spannung in der Ukraine ist mit Händen zu greifen, und die Reise von Großvater und Enkelin führt ausgerechnet in den Osten des Landes, wo Russland gerade die Krim annektiert. Eine dritte Hauptfigur sorgt dafür, dass diese zweite Ebene weit mehr als bloß ein Hintergrundrauschen ist: Im Zug haben Eduard und Adele den ukrainischen Russen Lew (Tambet Tuisk) kennengelernt; der bürgerkriegsähnliche Streit, der das Land entzweit, spaltet auch seine Familie.
Natürlich sind die beiden Kriege wichtige Themen des Dramas. Und doch ist „Leanders letzte Reise“ in erster Linie ein Film über die Versöhnung zwischen den Generationen, zumal Adele lernen muss, dass schlichtes Schwarzweißdenken nicht weiterhilft, wenn es gilt, Ereignisse der Vergangenheit zu bewerten und zu bewältigen. Das Road-Movie wird ohnehin von den Schauspielern geprägt: Petra Schmidt-Schaller verkörpert die Enkelin ungemein glaubwürdig als junge Frau von Anfang dreißig, die nach einem abgebrochenen Studium weder einen Plan noch eine Perspektive hat und nun ähnlich wie einst ihr Großvater ausgerechnet tief im Osten ihr Herz verliert. Nicht minder eindrucksvoll ist Jürgen Prochnow, zwanzig Jahre jünger als seine Rolle und hierzulande wie auch in Hollywood ein Synonym für harte Kerle, der den äußerlich gebeugten, aber enorm sturen Greis mit kaum wahrnehmbaren Zwischentönen versieht. Beide, Eduard und Adele, laden zu Beginn des Films nur bedingt zur Identifikation ein, zumal auch die Enkelin nicht gerade eine Frohnatur ist. Dass sie mehr und mehr zu Sympathieträgern werden, liegt vor allem an den beiden Hauptdarstellern. Der Film ist zu großen Teilen an den Originalschaulätzen entstanden, was sicher ebenfalls einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Glaubwürdigkeit der Geschichte hat; die haushohe Straßenbarrikade, an der die Fahrt des Trios durch Kiew endet, ist tatsächlich auf dem seit den Protesten 2013 weltberühmten Maidan gedreht worden. (Text-Stand: 15.9.2017)