Der Nationalsozialismus reißt eine Familie auseinander
Das Ehepaar Kornitzer bringt im Dezember 1938 seine Kinder in Sicherheit. Der achtjährige Georg und seine drei Jahre jüngere Schwester Selma werden mit einem Kindertransport von Berlin aus nach England geschickt. „Sobald wir können“, versprechen die Eltern, wollen sie nachkommen. Der Nationalsozialismus reißt die Familie auseinander. Mit der schmerzhaften Trennung am Bahnhof beginnt die Verfilmung des Romans „Landgericht“ von Ursula Krechel, der im Jahr 2012 den Deutschen Buchpreis erhielt. Krechels literarische Erzählung dagegen beginnt mit einem Wiedersehen: Nach dem Krieg kann Richter Richard Kornitzer aus dem Exil in Kuba zurückkehren. Seine Frau Claire, die als Nicht-Jüdin in Deutschland überlebt hat, empfängt ihn in einem Ort am Bodensee. In der Inszenierung von Regisseur Matthias Glasner („Blochin“ / „KDD“ / „Der freie Wille“) nach einem Drehbuch von Heide Schwochow („Bornholmer Straße“ / „Die Unsichtbare“) ist dies die Anfangsszene des zweiten Film-Teils.
Glasner verzichtet auf das visuelle Schwelgen in Nazi-Symbolik
Schwochow und Glasner erzählen im Fernsehen streng chronologisch und erlauben sich nur eine einzige Rückblende: Nach dem Abschied von den Kindern springt die Inszenierung zurück ins Jahr 1933, als der junge Richter Kornitzer (Ronald Zehrfeld) aus dem Gerichtsgebäude geworfen wird. Seinen Platz nimmt sein Freund Hans Buch (Felix Klare) ein. Was dazwischen geschieht, wird in diesem Zweiteiler, der in mehrfacher Hinsicht die Kunst des Auslassens pflegt, nicht erzählt. Allein im Zustand von Jonathan Roths (Christian Berkel) Antiquitätenladen, der 1933 noch in gutbürgerlicher Pracht glänzt, spiegeln sich die Verhältnisse wider. Roth, ein jüdischer Freund der Familie Kornitzer, scheint 1938 um Jahrzehnte gealtert, er ist ein gebrochener Mann. Die Darstellung der Nazizeit im Fernsehen ist ein Kapitel für sich. Die Produktionsfirma Ufa Fiction, vormals Teamworx, hat mit opulenten Mehrteilern wie „Dresden“, „Die Flucht“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“ große Publikumserfolge erzielt. Die Literaturverfilmung „Landgericht“ reiht sich nicht in diese „Event“-Reihe ein, weil Drehbuch und Inszenierung die Familiengeschichte nicht mit den üblichen Bestandteilen von TV-Historienschinken zum Nationalsozialismus ausschmücken: Es gibt keine Fackelumzüge, keine SA-Trupps, die Scheiben einschmeißen und Juden verprügeln, kein visuelles Schwelgen in Nazi-Symbolik, auch keine Kriegs-Action. Regisseur Glasner sagt, er habe jeden „Historienbombast“ vermeiden wollen, auch weil er der „kammerspielartigen Intimität“ des Drehbuchs habe gerecht werden wollen. Das wird er. Allerdings wäre es schön gewesen, wenn man sich noch häufiger auf kammermusikalische Begleitung beschränkt hätte.
Berlin, England, Kuba – die Familie lebt verstreut an drei Orten
Die Folgen des Nazi-Terrors entfalten sich im ersten Teil tatsächlich ohne „Historienbombast“, aber dennoch auf sehr eindringliche Art. Richard Kornitzer muss seine Frau Claire (Johanna Wokalek) alleine zurücklassen, weil er nur ein Visum von dem korrupten kubanischen Konsul erhält. Die Familie ist nun auf drei Orte verstreut. Man schreibt sich Briefe, aber spätestens mit Beginn des Krieges im September 1939 ist fraglich, ob diese überhaupt ankommen. Die Hoffnung, dass die Familie bald wieder zusammenfindet, schwindet immer weiter. Glasners Inszenierung mutet in ihrem chronologischen Aufbau und in der ruhigen Erzählweise, die keine schnellen Schnitte und hektischen Kamerafahrten kennt, etwas altmodisch an. Aber gerade diese Herangehensweise macht die besondere Tragik spürbar: Die Entfremdung als langsamer, unausweichlicher Prozess, der auf Trennung und Kontakt-Verlust folgt.
Das Spiel von Licht & Schatten schafft eine intensive Atmosphäre
Der Film erzählt die einzelnen Schicksale an den drei Schauplätzen gleichberechtigt weiter. Die Kinder landen bei einer wohlhabenden Familie in Nordengland, in der die Mutter (Kate Dickie) selbst keine Kinder bekommen kann und die Georg und Selma derart streng behandelt, dass sie irgendwann weglaufen. Nicht nur an diesem düsteren und kalten Ort sorgt das intensive Spiel von Licht und Schatten für Atmosphäre und visuelle Eindringlichkeit. Als Georg und Selma nach einem Zeitsprung in London in einer Gruppe obdachloser Kinder wieder auftauchen, wähnt man sich in einer Charles-Dickens-Verfilmung. Auch hier wird beherzt ausgelassen: Wie sich die beiden von Nordengland in die Hauptstadt durchgeschlagen und drei Jahre überlebt haben, erscheint so märchenhaft wie die Geschichten von Hans Christian Andersen, mit denen Selma die anderen Kinder unterhält. Schließlich werden Georg und Selma von Mrs. Hales (Saskia Reeves) abgeholt, die sie in ihrer eigenen Familie aufnimmt. Dort werden die Kinder, wie sich in Teil zwei zeigt, endlich heimisch – und sie entfremden sich weiter von ihren Eltern. Die beiden Kinderrollen werden jeweils von drei verschiedenen Jungen und Mädchen gespielt, wobei die Besetzung nicht durchweg überzeugt.
Die Berliner auf Schnäppchenjagd bei den jüdischen Nachbarn
Zunehmend verdunkelt sich auch das Alltagsleben von Claire, die einst als Filmemacherin arbeitete, aber als Frau eines Juden ebenfalls ausgegrenzt wird. Die einst gut situierte Familie wurde enteignet, Claire ist gezwungen, den Hausstand zu versteigern. Eine der eindrucksvollsten Szenen: Berliner Bürger streifen durch die Wohnung, um ein Schnäppchen zu ergattern – die Nazizeit als Raubzug der kleinen Leute. Die nackte Gewalt dagegen bleibt nahezu ausgeblendet, auch Claires Vergewaltigung wird nur angedeutet. Schließlich flieht sie aus Berlin nach Süddeutschland, lebt und arbeitet auf einem Bauernhof am Bodensee. Hier ist Deutschland wieder hell, fast idyllisch, der Krieg hinterlässt seine Spuren, bleibt aber unsichtbar. Erst wenn Richard nach dem Krieg die Stelle am Landgericht Mainz antritt, sieht man eine deutsche Trümmerlandschaft.
Differenziertes Zeitbild dank starker Nebenfiguren
Auch der Holocaust wird allenfalls indirekt zum Thema. Schwochow und Glasner vertrauen auf ein historisches Vorwissen beim Publikum und vermeiden weitgehend Dialoge, in denen noch einmal das Große und Ganze erläutert wird. Davon profitiert der Zweiteiler, der weniger schablonenhaft wirkt als viele andere fiktionale Beiträge zur jüngeren Zeitgeschichte. Und obwohl die Familientragödie im Vordergrund steht, entsteht ein differenziertes Zeitbild: Von der Ausgrenzung der Juden, von den Geschäften mit ihrer Not, in Teil 2 von der immer noch braun gefärbten Justiz und dem Verdrängen der Vergangenheit. Mit starken, prominent besetzten Nebenfiguren setzt das Drehbuch Akzente: Alexander Beyer als Kornitzers Exil-Freund auf Kuba, Barbara Auer als Sekretärin am Landgericht Mainz, Eva Löbau als schwäbische Bäuerin und Katharina Wackernagel als Zimmerwirtin. Die Täter bleiben am Rand, die Verfilmung konzentriert sich auf die Kornitzers, ohne sie als Opfer zu stilisieren.
Wie im Roman wird der Richter zu einer Michael-Kohlhaas-Figur
Dies trifft auch auf den Richter zu. Bedenkt man die Odyssee der Kinder und den Leidensweg Claires, erscheint Richards Schicksal im Exil halb so schlimm. Aber auch auf dem sonnendurchfluteten Kuba, wo Richard eine Stelle als juristischer Berater findet, bleiben die Ungewissheit und die Sorge um die Familie quälend. Als er sich in die Lehrerin Charidad (Edenys Sanchez) verliebt und mit ihr ein Kind zeugt, hat auch er fern der Heimat Wurzeln geschlagen. Ursula Krechels Roman beruht auf dem realen Schicksal des Berliner Richters Robert Michaelis und dessen Familie (das ZDF strahlt dazu im Anschluss an den ersten Teil eine Dokumentation aus). Ihre Prosa ist fakten- und detailreich, sie zitiert zahlreiche Dokumente, die vor allem den Kampf ihres Protagonisten um Entschädigung belegen. So umfassend und genau kann ein Fernsehfilm nicht in die Materie einsteigen, dafür kann er in einem einzigen Bild erzählen, wie sich eine Figur verrennt: Richard an der Schreibmaschine, die Kamera fährt zurück über ein mit Schriftsätzen gepflastertes Zimmer, aus dem Off hört man ein Durcheinander aus Brief-Zitaten. Wie im Roman wird der Richter zu einer Michael-Kohlhaas-Figur, die nichts anderes mehr kennt als ihren Kampf um Gerechtigkeit.
Erfreuliches TV-Wiedersehen mit Johanna Wokalek
Glasners Inszenierung lässt den Hauptdarstellern Raum für ein nuancenreiches Spiel. Claire ist eine Frau und Mutter, die alles der Vereinigung ihrer Familie unterordnet. Dank Johanna Wokalek bewahrt diese Figur Eigenständigkeit und Tiefe. Wokalek beherrscht die Kunst, eine große Tragödie auch ohne große, pathetische Gesten zum Ausdruck zu bringen: Ein mehr als erfreuliches Fernseh-Wiedersehen mit der Schauspielerin. Und mit einer Besetzung Ronald Zehrfelds kann man aufgrund dessen ebenso kraftvoller wie feinfühliger Ausstrahlung eigentlich nie einen Fehler machen. Allerdings war er zuletzt ein bisschen häufig zu sehen. Hier spielt er nach dem Staatsanwalt Angermann im Kinofilm „Der Staat gegen Fritz Bauer“ erneut eine bedeutende Juristen-Rolle. Richard Kornitzer leidet im zweiten Teil körperlich daran, dass die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden und ihm als seine Kollegen und Vorgesetzten Steine in den Weg legen. Er wirkt überfordert, getrieben, unsensibel gegenüber seiner Frau. „Landgericht“ ist auch im Fernsehen ein differenziertes Drama, und obwohl das Bildermedium direkter auf die Emotion zielt, wird die Tragödie nicht durch ein versöhnliches Ende „entschärft“. Allerdings findet die Inszenierung ein letztes Bild, das in die Zukunft weist.