Kommissarin Lucas – Helden wie wir

Ulrike Kriener, Schwarz, Straube, Stefan Kurt, Thomas Berger. Keiner hat ihr geholfen

Foto: ZDF / Hendrik Heiden
Foto Tilmann P. Gangloff

„Helden wie wir“, der herausragend gute und enorm fesselnde Krimi aus der Reihe mit Ulrike Kriener erinnert an den Fall des im September 2009 verstorbenen Münchener Unternehmers Dominik Brunner: Eine Frau mischt sich ein, als zwei Männer in der U-Bahn eine junge Frau schikanieren, und muss ihre Zivilcourage mit dem Leben bezahlen. Die Sachlage scheint klar, doch bei der Rekonstruktion des Tathergangs ergeben sich überraschende Erkenntnisse, die ein völlig anderes Licht auf die Ereignisse werfen. Thomas Berger hat vor zwanzig Jahren die ersten „Kommissarin Lucas“-Filme (ZDF / Olga Film) mit Ulrike Kriener gedreht; nun hat er im vorletzten Film der Reihe sein eigenes Drehbuch mit enormer Intensität umgesetzt. Die Klasse hat auch mit der vorzüglichen Kameraarbeit und der passenden Musik zu tun, aber mindestens so bedeutsam ist das an die „Spreewaldkrimis“ erinnernde Montagekonzept.

Im September 2009 mischte sich der sechzigjährige Unternehmer Dominik Brunner ein, als Jugendliche in einem Münchener S-Bahnhof von zwei jungen Männern bedroht wurden. Es kam zu einer Schlägerei, in deren Verlauf Brunner stürzte. Die Täter schlugen und traten weiter auf ihn ein; im Krankenhaus starb er schließlich. Bei der Aufarbeitung des Vorfalls zeigte sich, dass die Umstände nicht so klar waren, wie sie zunächst schienen; trotzdem wird Brunner bis heute als Held verehrt. Thomas Berger hat die Ereignisse in seiner elften Regiearbeit für „Kommissarin Lucas“ aufgegriffen. Sein Drehbuch ist eine geschickte Variation des Verbrechens, aber dass „Helden wie wir“ eine der wohl besten Episoden der ZDF-Krimireihe geworden ist, hat andere Gründe. Einer davon ist die persönliche Betroffenheit der Titelfigur: Ellen Lucas (Ulrike Kriener) ist Zeugin der Schlägerei auf dem Bahnsteig geworden, aber ebenso tatenlos geblieben wie all’ die anderen. Sie kann sich ihr Verhalten selbst nicht erklären; ihre Scham ist so groß, dass sie dem Kollegen Fitz (Sebastian Schwarz) verschweigt, am Tatort gewesen zu sein.

Kommissarin Lucas – Helden wie wirFoto: ZDF / Hendrik Heiden
Eine Frau mischt sich ein und muss dafür mit dem Leben bezahlen. Die Sachlage scheint klar, doch später bei der Rekonstruktion des Tathergangs ergeben sich neue Erkenntnisse. Franziska Schlattner, Constantin von Jascheroff und Rouven Israel

Die eigentliche Faszination des Stoffs resultiert jedoch ähnlich wie beim Tod Brunners aus der Erkenntnis, dass der Fall etwas anders abgelaufen ist, als es die Zeugenaussagen und die Aufnahmen einer Überwachungskamera nahelegen. Lucas hat eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen einer Frau und zwei Männern wahrgenommen. Die schockierenden Bilder enden mit einem Tritt ins Gesicht der Frau, als sie auf dem Boden liegt. Durch Befragungen erfahren Lucas, Fitz und die neue junge Kollegin Wolf (Milena Straube), was vorher passiert ist: In der U-Bahn hat einer der beiden Männer, Jan Böhm (Rouven Israel), eine junge Frau angequatscht. Es kam zu einem Wortwechsel, in dessen Verlauf Böhm derart beleidigend geworden ist, dass sich Karin Hofer (Franziska Schlattner) eingemischt hat. An der nächsten Haltestelle sind Böhm, sein Freund Florian (Constantin von Jascheroff) und Karin Hofer ausgestiegen. Auf dem Bahnsteig hat sich die Auseinandersetzung offenbar fortgesetzt; am Ende ist die Frau tot.

Natürlich behandelt Berger, der die Reihe vor zwanzig Jahren gemeinsam mit der Autorin Barbara Jago geschaffen hat, unter anderem die Frage der Zivilcourage. Wie Brunner, so wird auch Karin Hofer von der Öffentlichkeit für ihr Engagement gefeiert. Die Medien prangern die Umstehenden an: „Die Schande von Nürnberg – Keiner hat ihr geholfen“. Im Gespräch mit Viviane (Alberta von Poelnitz), der Tochter des Opfers, versucht Lucas diese Passivität zu erklären, die auch ihre eigene war: Die Leute hätten sich von den Ereignissen überrollt gefühlt, sie hätten gar nicht begriffen, was da passiert. Die Tochter, ungefähr achtzehn, kontert kühl: „Zwei Männer schlagen eine Frau tot. Was ist daran schwer zu verstehen?“ „Nichts“, muss die Kommissarin, die sonst doch alles im Griff hat und selbst nicht kapiert, warum sie wie paralysiert war, kleinlaut einräumen.

Es ist nicht zuletzt die subjektive Perspektive, die diesen Film mit dem sarkastischen Titel „Helden wie wir“ im Rahmen der Reihe so besonders macht. Eine weitere von vielen ausgezeichneten Ideen Bergers war die Einführung einer zweiten neuen Figur: Stefan Kurt spielt einen Polizeipsychologen, den Lucas mehrfach um Beistand bittet. In den Gesprächen wird eine gewisse Amtsmüdigkeit der Kommissarin deutlich. Dass sie ihr Leben dem Beruf gewidmet („nicht geopfert!“) hat, bereut sie nicht, doch sie fragt sich, ob sie langsam zu alt für die damit verbundenen Herausforderungen wird. Der Psychologe wiederum interpretiert die Fokussierung auf die Arbeit prompt als Flucht: „Wenn wir uns selbst nicht begegnen wollen, können wir auch keinem anderen begegnen.“ Der Beziehungsstatus ändert sich in den Gesprächen ständig. Mal geht es um Lucas’ Befindlichkeit, mal um den Fall, aber die gegenseitigen Gefühle lassen sich immer weniger verleugnen; das ist ebenso formidabel geschrieben wie gespielt.

Kommissarin Lucas – Helden wie wirFoto: ZDF / Hendrik Heiden
Kommissarin Lucas (Ulrike Kriener) und ihr Kollege Fitz (Sebastian Schwarz) müssen wissen, wo sich der Täter versteckt. Doch Claudia Kühn (Sandra Julia Reils) will das Leben ihres Kindes nicht riskieren. Ein absolutes Highlight der ZDF-Reihe

Noch mehr Respekt gebührt Berger jedoch für das Kunststück, dem eigenen Drehbuch trotz der großen Dialogdichte eine derart hohe Intensität abzugewinnen. Das hat auch mit der vorzüglichen Kameraarbeit (Frank Küpper) und der passenden Musik (Christoph Zirngibl) zu tun, aber mindestens genauso bedeutsam ist das an die „Spreewaldkrimis“ erinnernde Montagekonzept (Schnitt: Melania Singer). Weil die Rückblenden stets nur einen Teil des Gesamtbilds zeigen, ergeben sich immer wieder neue verblüffende Erkenntnisse. Berger ist zwar nicht als erster auf die Idee gekommen, Gegenwart und Vergangenheit zu durchmischen, indem er Lucas zum Beispiel hinter den beiden Männern durch den Waggon gehen lässt, während einer der beiden seine Aussage macht, aber selbstredend ist der Effekt verblüffend, wenn sie sich schließlich selbst in der Bahn sitzen sieht. Beiläufig verdeutlicht der Film zudem, wie sehr Wohl und Wehe eine Frage des Zufalls sind: Hätte Karin Hofer ihr nicht den Platz überlassen, wäre es nicht zu der tödlichen Eskalation gekommen.

Der Rest ist Polizeiarbeit. Der Apparat läuft auf Hochtouren, was natürlich gleichfalls enorm zur Spannung beiträgt. Lucas’ Team arbeitet Tag und Nacht, denn die von den beiden Männern belästigte junge Frau (Sandra Julia Reils) ist mitsamt ihrem kleinen Sohn spurlos verschwunden, ebenso wie Walter, der sie womöglich entführt hat, doch dann ergeben die Ermittlungen unerwartete Erkenntnisse; nicht nur über die Verbindung zwischen diesen beiden, sondern auch über Karin Hofer. Die Rekonstruktion des Tathergangs beschert dem Film ein angemessenes Finale mit einigen Überraschungen. (Text-Stand: 31.8.2023)

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Reihe

ZDF

Mit Ulrike Kriener, Sebastian Schwarz, Milena Straube, Stefan Kurt, Rouven Israel, Constantin von Jascheroff, Lucas Janson, Franziska Schlattner, Sinje Irslinger, Julia Reils, Alberta von Poelnitz, André Szymanski

Kamera: Frank Küpper

Szenenbild: Gabi Pohl

Kostüm: Natascha Curtius-Berger

Schnitt: Melania Singer

Musik: Christoph Zirngibl

Musik: Christoph Zirngibl

Redaktion: Solveig Cornelisen

Produktionsfirma: Olga Film

Produktion: Ulli Weber

Drehbuch: Thomas Berger

Regie: Thomas Berger

Quote: 5,75 Mio. Zuschauer (23,6% MA)

EA: 30.09.2023 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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