Den Kampf gegen ihre Dämonen scheint sie vorerst gewonnen zu haben. Kommissarin Louise Boni ist frisch aus dem Entzug, trocken und muss sich gleich wieder in tiefste menschliche Abgründe begeben. Dabei beginnt ihr neuer Fall eher harmlos. Eine Studentin wird von ihrem Vater als vermisst gemeldet. Kommissariatsleiter Rolf Bermann vermutet nichts Spektakuläres, deshalb lässt er das Boni machen. Ein Testlauf, bei dem die „schwierige“ Kollegin nicht viel kaputt machen kann. Doch es kommt anders, die Vermissung wächst sich aus zum Mordfall. Zwei pubertierende Jungen haben in einer Scheune eine misshandelte und vergewaltigte junge Frau entdeckt. Wenig später ist sie verschwunden. Hat sie sich selbst aufrappeln können? Kam der Täter zurück? Oder hat ihr jemand geholfen? Einer der beiden Jungen wird wenig später in der Nähe tot aufgefunden. Unter Verdacht steht dessen Vater, ein raubeiniger Prolet, der gegen alles und jeden wettert und der behauptet, sein Sohn habe ihn umbringen wollen. Boni glaubt nicht an dessen Schuld, eher daran, dass die zwei verschrobenen Schwestern, denen die Scheune gehört, sie auf die richtige Spur bringen könnten. Diese beiden verabscheuen zwar die „Welt da draußen“, aber gesetzt den Fall, sie hätten der verletzten Studentin geholfen, wäre es dennoch seltsam, sich nicht an die Polizei oder den Vater der Vermissten zu wenden. Bald sind auf jeden Fall auch die beiden alten Damen verschwunden.
Im Februar bereits vom „Fernsehkrimi des Jahres“ zu sprechen, wie es „Die Welt“ letztes Jahr tat, mag allzu kühn erscheinen, doch „Begierde – Mord im Zeichen des Zen“ mit seiner geradezu exzentrischen, surrealen Erzählweise gehört aus heutiger Sicht tatsächlich zu den außergewöhnlichsten TV-Krimis 2015. „Kommissarin Louise Boni – Jäger in der Nacht“, für den sich bis auf die Bildgestaltung dasselbe Kreativteam bei Buch (Hannah Hollinger), Regie (Brigitte Maria Bertele), Szenenbild (K.D. Gruber), Schnitt (David Jeremy Rauschning) und Produktion (Ariane Krampe) abermals zusammenfand, ist vom narrativen Konzept und der ästhetischen Anmutung her konventioneller angelegt. Das will nicht viel heißen, war sein Vorgänger doch die absolute Ausnahme von der TV-Genreregel des deutschen Ermittlerkrimis. Mag vielleicht auch die etwas hellere Tonlage ein „Rat“ der ARD-Tochter Degeto gewesen sein, die bekanntlich nach ihrem forschen Neustart wieder ein bisschen zurückrudert in punkto Innovationsbereitschaft, so passt der modifizierte Angang an Plot und Gestaltung aber durchaus zum Erzählten. Boni will nach ihrer Entziehungskur den Neuanfang. Die Heldin bleibt allerdings seelisch angeschlagen, was ihr nun bei ihrer Ermittlungsarbeit deutlich Vorteile verschafft: Sie versteht die Täter oder die kranken Seelen derer, die unter Mordverdacht stehen besser als andere. So ist der Neuanfang als Mensch auch und vor allem ein Neuanfang als Kommissarin: Diese Frau scheint fürs erste gefestigt. Das muss sie auch sein, sonst würde sie bei diesem Fall den Kürzeren ziehen. Und dadurch, dass ihre körperlich-seelische Verfassung im Gegensatz zum philosophisch-sinnlichen Auftaktfilm nicht mehr so stark im Fokus steht, kann gleichsam das, was in der Fallgeschichte im Verlauf der Handlung zunehmend zu Tage tritt, zum Herzstück dieses ebenfalls sehr besonderen Krimis werden.
In „Jäger in der Nacht“ geht es um Gewalt gegen Frauen – konkret: um Männer, die sich Frauen greifen, um ihre Triebe maßlos, ja bestialisch, an ihnen zu befriedigen. Der Film kreist sein Thema geschickt ein und die Heldin kommt dabei dem Täter fast unmerklich immer näher. Das beginnt mit vermeintlich harmlosen Vorboten, verbalen Sticheleien, was Bonis Alkoholsucht angeht, und steigert sich ins Unverschämte („Hast dir das Hirn weggesoffen“). Bevor sich die Gewalt am Ende kurz, aber mit erschreckender Grausamkeit auch visuell Bahn bricht, sensibilisiert der Film nach dem Roman von Oliver Bottini also auch für die versteckten Formen der Gewalt. Und er zeigt immer wieder dieselbe Konstellation: zwei männliche Wesen – eine Frau. Das beginnt schon in der ersten Szene in der Scheune. Die pubertierenden Jungs sind fasziniert von dieser jungen Frau, die da auf dem Boden liegt und sich ihnen nicht entziehen kann. Der, der später sterben wird, schaut sich den geschundenen Körper ganz genau an, er fasst ihn auch an und er findet ihn offenbar erotisch anziehend. Hier bahnt sich bereits das an, was die erwachsenen Täter, bauend auf ihre physische Überlegenheit, im Film zu perfektionieren verstehen: „die Unterdrückung der Frau, die hilflos erdulden muss, dass sich schwache Männer von ihr zur Gewalt provoziert fühlen“, bringt es Autorin Hannah Hollinger auf den Punkt. So abartig dieses Verhalten, das Ausleben von Gewaltphantasien, auch sein mag, für Regisseurin Bertele ist es ein Phänomen, das sie als Künstlerin ergründen möchte. Sie glaubt, dass der Grat schmal sei, der einen Menschen zum Kriminellen macht, insbesondere wenn die Triebe im Spiel sind. Hinter allem stecke wohl „so krank das erscheinen mag: die Sehnsucht, sich lebendig zu fühlen, die Sehnsucht nach Intensität, das vielleicht ein normales bürgerliches Leben mit seiner vermeintlichen Berechenbarkeit so nicht hergibt“. Sowohl im Drehbuch als auch im Film spürt man, dass es um die dunklen, verborgenen Seiten der menschlichen Psyche geht; dem Täter wird nicht wie in vielen Psychothrillern das Etikett „Monster“ aufgeklebt, sondern er wirkt wie ein „normaler“ Mensch. So steht er im Film am Ende auch nicht noch mal wie das Horrorfilm-„Monster“ auf, aber seine „Harmlosigkeit“ und Normalität machen ihn umso erschreckender.
„Man kann es sich nicht aussuchen, was in einem drin’ ist. Es ist einfach da. Mann kann es verdrängen oder unterdrücken. Dann ist man wie all die anderen Langweiler, die halbtot durch die Stadt laufen. Oder man erkennt es und lässt es raus. Und beginnt zu leben.“ Mit seiner wahnhaft-selbstgefälligen Umwertung seiner kriminellen Taten kann der Täter die Heldin nicht beeindrucken oder verunsichern. Louise Boni ist mittlerweile eine Frau, die sich zu wehren weiß. Und gerade, weil sie Schlimmes durchgemacht hat, weil sie es schaffte, sich über König Alkohol hinwegzusetzen, kann ihr nichts und niemand Angst machen, schon gar nicht Männer, die zu zweit sein müssen, um sich an einer Frau zu vergehen. Auch wenn man als Zuschauer sicher genauso gern weiterhin einer Säuferin als Heldin folgen würde (was nicht mehr ist, kann ja später wieder werden) – diese Geschichte hätte nie und nimmer mit einer Sucht-Figur glaubhaft und psychologisch stimmig erzählt werden können. Wobei man natürlich sagen muss, dass sich „Kommissarin Louise Boni“ wohltuend vom Gros der pseudorealistischen, Fakten- und Indizien-orientierten Reihen-Krimis abhebt und im Genre eher das Mythologische und Archaische sucht als einen alltagsnahen Abbildrealismus.
Auch im zweiten Film gibt es immer wieder wortlose Rückblenden, die das Geschehen verfremden, Atmosphäre schaffen und eine visuelle geheimnisvolle Spur legen, ohne dabei kompliziert die Narration zu verrätseln. Das „Nacht“-Motiv des Titels macht sich selbstredend auch in einer gewissen Düsternis breit, was hier allerdings nicht überästhetisiert wird (und sich somit nicht dem realitätsnahen Thema in den Weg stellt). Im ersten Bild kommt hinzu, dass die Dunkelheit in der Scheune dem Opfer wenigstens filmsprachlich einen Schutzraum gewährt. Sehr überzeugend sind auch die Dialoge: Sie sind knapp, sind nie bloße Erfüllungsgehilfen der Handlung, sondern verdichten immer auch den Beziehungsaspekt. „Die Dialoge haben „etwas Durchgeformtes“, was sich von den „rein umgangssprachlich geprägten Dialogen unserer Fernsehlandschaft“ unterscheidet, schwärmt die Regisseurin von Hollingers Verständnis für Sprache. Und die, die die Sprache zum Leben erwecken, sind ebenfalls außergewöhnlich gut: Anian Zollner als Kommissariatsleiter, Frank Seppeler als krebskranker Kollege, Godehard Giese als freundlicher Polizist in der zweiten Reihe; Juergen Maurer gibt einen kapitalen Proleten, Gudrun Ritter und Rainer Bock spielen in nur zwei, drei Szenen genau auf den Punkt. Und das Gesicht des Films auch bei „Jäger in der Nacht“: Melika Foroutan. Zwar darf ihre Boni dieses Mal desöfteren lächeln, aber beim Ermitteln ist sie streng, konsequent, unnachgiebig, nur ein einziges Mal ist sie unkontrolliert, da rutscht ihr die Hand aus vor Wut. Ansonsten sind ihre Hände meist dazu da, ihre Zigaretten zu halten.
Foroutan hat nach wie vor eine Einzelgängerin zu spielen: Sie gibt ihr einen selbstbewussten Anstrich, ihrem Gesicht aber ist die dunkle Phase ihres Lebens nach wie vor eingeschrieben. Das alles gelingt umso besser, als auch die Dialoge dem Zuschauer Leerstellen für das Nonverbale lassen. Auch darin scheinen sich Hollinger und Bertele einig zu sein: Der Betrachter sollte sich den Film ein Stück weit selbst durch die Wahrnehmung (der kleinen Gesten, der Blicke, der Auslassungen) erschließen und sich die Geschichte nicht anhand von Sätzen und vertexteten Emotionen erklären lassen. „Die psychologische Spannung in der Interaktion zweier Menschen entsteht oft ja erst, wenn man in den Gesichtslandschaften andere Dinge lesen kann, als man aus deren Mündern hört“, betont Bertele, „Dinge, die verschwiegen oder verbogen werden, weil die Menschen ihr Innerstes nicht öffnen wollen oder etwas zu verbergen haben.“ So heißt es auch beim zweiten „Boni“-Krimi: hinschauen!