Lauren (Anja Knauer), Mitte dreißig, ist Gebrauchsfotografin. Im Stillen träumt sie zwar davon, als Künstlerin anerkannt zu werden, aber fürs täglich’ Brot dokumentiert sie neben Hochzeiten und Kindergeburtstagen auch mal die Folgen eines Wasserrohrbruchs. Ihr Leben ändert sich radikal, als sie sich nach dem Tod des Vaters um ihren jüngeren Bruder kümmern muss: Anthony (Lucas Reiber) hat das Asperger-Syndrom und lebt in einem Pflegeheim, dessen Kosten Laurens Einkommen weit übersteigen. Notgedrungen nimmt sie Anthony, zu dem sie schon lange keinen Kontakt mehr hatte, bei sich auf. Seine krankhafte Penibilität und ihr ungeordneter Lebensstil passen natürlich überhaupt nicht zusammen, und selbstverständlich bezieht der Film genau daraus seinen Reiz; aber das Drehbuch von Arndt Stüwe hat noch viel mehr zu erzählen als bloß die Konfrontation von Kosmos und Chaos.
Hitchcock prägte einst den Begriff „MacGuffin“; so nannte er Gegenstände, die eine Handlung auslösen und vorantreiben. In „Bruderherz“ ist dieses Objekt eine vor vielen Jahren spurlos verschwundene Nachricht: Lauren sollte ihren Bruder von der Schule abholen, hat die entsprechende Notiz jedoch nie zu Gesicht bekommen; der Junge hatte einen Unfall und musste auf die Intensivstation. Der Vater war derart erzürnt, dass er seine damals 17jährige Tochter vor die Tür setzte; seither hatten die beiden keinen Kontakt mehr. Als er eines Tages den Zettel in Anthonys Sachen findet, wird ihm klar, welches Unrecht er ihr angetan hat. Er will die Sache wiedergutmachen, aber dazu kommt es nicht mehr. Weil sich Lauren nicht traut, seine letzte Nachricht abzuhören, und auch den Polizeikarton mit seinen Habseligkeiten nicht öffnet, bleibt der „MacGuffin“ bis zum Schluss ein Rätsel; nicht für die Zuschauer, aber für Lauren, die bei ihrem Bruder prompt den gleichen Fehler begeht wie einst ihr Vater bei ihr.
Im Grunde handelt Stüwes klug konstruiertes Drehbuch von einer Heldinnenreise. Lauren verlässt Boston zwar nicht, aber Heldenreisen führen in der Regel ohnehin nach innen. Auf Drängen ihrer Freundin Galina (Tara Marie Linke) bewirbt sich Lauren bei einem Wettbewerb, den ihr Idol, der Fotograf Jacob Abrahams (Peter Sattmann), veranstaltet. Jacob war mit ihrem Vater befreundet und erkennt ihr handwerkliches Talent, vermisst in ihren Fotos jedoch das Herz; natürlich wird sie Anthony zu verdanken haben, dass ihre Bilder Tiefe bekommen.
Aus dem Film hätte auch ein furchtbar sentimentaler Quark werden können, der Scherze auf Kosten des autistischen Bruders macht, oder eine der üblichen Romanzen, die Anthonys Behinderung als exotisches Beiwerk nutzt. Aber Stüwe und Regisseur Sebastian Grobler, der schon drei „Katie Fforde“-Filme gedreht hat, erzählen auch die obligate Liebesgeschichte mit sympathischer Beiläufigkeit: Laurens Nachbar Stephen (Bernd-Christian Althoff) betreibt ein Café, in dem Anthony seine mitgebrachten Kekse zu vertilgen pflegt. Weil er niemanden stört, lässt Stephen ihn gewähren, zumal er ohnehin ein Auge auf Lauren geworfen hat. Er steht ihr auch bei, als sie Anthony im Zorn vor die Tür setzt: Sie ist überzeugt, er habe ihre Fotos für den Wettbewerb zerstört, merkt nicht, dass sie genauso ungerecht ist wie einst ihr Vater.
Auch die weiteren und ausnahmslos überzeugend verkörperten Nebenfiguren tragen ihren Teil zur Komplexität der Geschichte bei; und sei es, weil Abrahams’ intriganter Assistent (Jan Liem) für zusätzliche Spannung sorgt, weil er mit miesen Tricks verhindern will, dass Lauren ihre Fotos rechtzeitig einreicht. Auch hinter der Kamera wurde vorzügliche Arbeit geleistet: Die atmosphärischen Zwischenschnitte auf die Skyline von Boston oder das malerisch herbstliche New England sind harmonisch in den Fluss der Bilder integriert, die Musik ist schön und stimmig, und dank der Ausstattung trägt Laurens gemütlich-heimeliges Heim eine eigene Handschrift und sieht nicht aus wie eine der sonst oft üblichen Katalogwohnungen.
Wenn überhaupt, dann sind es Kleinigkeiten, die man bemängeln könnte. Hin und wieder machen die Darsteller allzu angestrengte Gesichter, um zu vermitteln, was in ihren Figuren vorgeht, und der Name Anthony wird in der ersten Hälfte derart betont mit englischem „th“ ausgesprochen, dass gerade Anja Knauer beinahe erleichtert wirkt, als sie nur noch „Tony“ sagen muss. Zum Ausgleich erfreut „Bruderherz“ mit diversen Drehbuchdetails; Nachbarin Galina zum Beispiel klettert regelmäßig von der Feuertreppe aus in Laurens Wohnung, weil sie mit der Miete im Rückstand ist und im Flur der Vermieter lauert. Dass Anthony zu jeder Situation eine passende Statistik zum Besten gibt, ist nicht nur ein weiteres Merkmal, um ihn als pathologischen Erbsenzähler zu charakterisieren, sondern führt auch zu einem verblüffenden Gag, als er in Stephens Café einem vollbärtigen Stammgast erklärt, im männlichen Bart befänden sich mehr Fäkalkeime als auf der Brille einer öffentlichen Toilette. Der Charme des Films lässt sich ohnehin recht eindeutig mit Groblers unaufgeregtem nonchalanten Regiestil erklären, der sich vor allem in vielen kleinen Gesten äußert.