Judith (Jenny Schily) wird Freigängerin, Anna (Lana Cooper) landet mit Drogen im Blut im Krankenhaus, Jan (Leonard Carow) stellt sich den neuen Mitschülern vor, David (Christoph Bach) kehrt von einer Geschäftsreise aus Dubai zurück. Was die vier Protagonisten des Films „Kaltfront“ miteinander zu tun haben könnten, wird durch Bilder von Überwachungskameras und einen beiläufig eingeflochtenen Fernsehbeitrag über einen 16 Jahre zurückliegenden Banküberfall angedeutet. Erst nach und nach werden die Beziehungen untereinander und die jeweiligen Bezüge zu dem Verbrechen offenbart. Judith zählte zu den Tätern, Anna ist ihre Tochter, Jan der Sohn des bei dem Überfall erschossenen Sicherheitsangestellten und David der Sohn des ebenfalls getöteten Bankchefs, der damals als Geisel genommen worden war.
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„Kaltfront“ erzählt von den Spätfolgen eines Verbrechens, von Menschen, deren Leben durch die damaligen Ereignisse bis heute beeinflusst wird. Im Mittelpunkt des tragischen Dramas stehen die Figuren und ihre „Vergangenheitsbewältigung“, nicht wie in einem typischen Krimi die Aufklärung sämtlicher ungeklärter Fragen wie: Wer waren die anderen Täter? Wer hat im Auto die tödlichen Schüsse auf Davids Vater abgegeben? Einige Lücken bleiben bis zum Schluss bestehen, und auch sonst bemüht sich Lars Henning in seinem Langfilmdebüt (gleich zur Primetime) nicht um größtmögliche Logik oder Glaubwürdigkeit. Seine Figuren behalten unberechenbare und bisweilen irrationale Züge – was sie umso interessanter, aber auch etwas fremd und unnahbar erscheinen lässt. Der Titel „Kaltfront“ ist insofern treffend. Außerdem zieht hier tatsächlich etwas auf, die finale Tragödie ist absehbar. Henning verstärkt dieses Gefühl durch eine geschickte Inszenierung. Die Montage der parallelen Erzählstränge erweckt den Eindruck, als würden sich die Protagonisten in einer Art Gleichklang bewegen – und sich irgendwann zwangsläufig kreuzen. Was sie dann auch tun, wobei der Autor-Regisseur manchmal ziemlich simple Zufälle bemüht, um seine Konstruktion zu vollenden.
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Dieses Ungefähre, Offene in Buch und Inszenierung wirkt nicht perfekt, ist aber eine schöne Vorlage für das starke Ensemble, das hier die Freiheit zu spielen prächtig nutzt. Alle, Täter wie Opfer, ringen mit der Vergangenheit und mit Veränderungen in der Gegenwart, alle sind auf ihre Weise deformiert: „Irgendwann sind die Augen so an die Dunkelheit gewöhnt, dass man im Hellen nicht mehr klar kommt“, sagt Judith, die von der Haftzeit und dem unterdrückten Schmerz des selbst auferlegten Schweigens gezeichnet ist. Als sie nach 16 Jahren in den Offenen Vollzug wechselt und tagsüber einer Arbeit (in einem Sonnenstudio!) nachgehen darf, sucht sie den Kontakt zu ihrer Tochter. Anna reagiert abweisend. Sie hat genug Probleme, die sie hinter einer kühlen Fassade verbirgt. Im Krankenhaus hatte sie erfahren, dass sie schwanger ist. Ihr Freund, ein Unternehmensberater, behandelt sie nur wie schmückendes Beiwerk. Anna sucht ein wenig Halt bei dem Arzt, der sie im Krankenhaus behandelt hat.
Auch die beiden anderen Protagonisten stehen vor Wendepunkten, als Judith erstmals wieder außerhalb der Gefängnismauern auftaucht und damit die Erinnerung an das Verbrechen wachruft. Jan, der es als Stotterer in der neuen Schulklasse schwer hat, begegnet ihr zufällig in der Straßenbahn. Zuhause stiehlt er dem Liebhaber seiner Mutter, einem Polizisten, die Pistole und imponiert damit seiner neuen Clique. Zugleich träumt er von Rache an Judith wegen des erschossenen Vaters. Während er vom Verlust schwer getroffen scheint, hat sich David offenbar mit allem abgefunden. Auch mit der Übernahme der Familienbank durch eine Schweizer Bankengruppe. Nur die Mutter wehrt sich noch dagegen. David überspielt seine Selbstzweifel und Trauer mit Sarkasmus und einer zur Schau getragenen Gleichgültigkeit. Es verwundert nicht, dass er dennoch Judith zur Rede stellt, um genau in Erfahrung zu bringen, was damals im Auto zwischen seinem Vater und dessen Entführern geschehen ist.
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Vereinzelt wird die Logik etwas zu offensichtlich vernachlässigt, zum Beispiel wenn Jan zur Tankstelle zurückkehrt, um nach der weggeworfenen Pistole zu suchen. Die feine, lebensnahe Zeichnung der Figuren, zu der auch Neben-Episoden wie die von Judiths Flirt mit Gastwirt Kosta beitragen, sowie das Spiel der Darsteller sind jedoch allemal sehenswert.