Kalt

Franziska Hartmann, Kocevski, Krause, Lacant. Kleine Unachtsamkeit, große Tragödie

Foto: WDR / Michael Kotschi
Foto Thomas Gehringer

Ein immenses Unglück und die Fragen nach Schuld, Verantwortung und Vergebung: Das Fernsehdrama „Kalt“ (WDR / kineo Film) handelt vom Alptraum aller Eltern und Erzieher*innen. Bei einem Kita-Ausflug laufen zwei Kinder unbemerkt davon und stürzen in einen eiskalten Fluss. Eines stirbt, das zweite liegt im Koma. Franziska Hartmann spielt herausragend die extrem fordernde Rolle der verantwortlichen Gruppenleiterin Kathleen, die sich nach dem ersten Schock mit dem eigenen Anteil an der Tragödie auseinandersetzen muss. „Kalt“ nach dem Drehbuch des Pädagogen und Grimme-Preisträgers Hans-Ullrich Krause („Der Fall Bruckner“) ist ein enorm intensives Nachbarschafts-Drama, buchstäblich kalt, konsequent grau, bedächtig und ohne überflüssige Worte inszeniert (Regie: Stephan Lacant) und zugleich packend und hochemotional. Ein Film, der in Erinnerung bleibt.

Es genügen kleine Unachtsamkeiten und ein unermessliches Unglück geschieht, das das Leben aller Beteiligten für immer überschatten wird: Die Film-Tragödie „Kalt“ ist so ziemlich das Gegenteil sonnig-leichter Fernsehunterhaltung, aber ein (seltenes) Beispiel dafür, dass sich Produktionsfirmen und TV-Redaktionen noch jenseits der allgegenwärtigen Krimis an existenzielle, schwere Stoffe mit sorgfältig entwickelten Figuren und bedrückender Intensität wagen. „Kalt“ ist es hier buchstäblich von Anfang an, auch in den grauen und farblich matt gehaltenen Bildern. Durchgefroren, zitternd vor Kälte und wohl auch vor Verzweiflung, tritt die Protagonistin des Films erstmals in Erscheinung, denn Kathleen Selchow (Franziska Hartmann), Gruppenleiterin der örtlichen Kita, war ins eisige Wasser gesprungen, um zwei Kinder zu retten. In eine Wärmefolie gehüllt, wird sie von der Polizei nach Hause gefahren. Sie steigt vorzeitig aus dem Wagen, um an einer Tür in der Nachbarschaft zu klingeln. „Können wir reden?“, ruft Kathleen. Aber die Nachbarin, die nur schemenhaft im Inneren zu sehen ist, öffnet nicht. Zu Hause wird Kathleen von ihrem Mann Robert (Božidar Kocevski) tröstend in den Arm genommen. „Es ist alles gut“, behauptet er, aber das Gegenteil ist wahr.

KaltFoto: WDR / Michael Kotschi
Der Alptraum beginnt. Wo sind die beiden Kinder? Die Verzweiflung und der tiefe Schmerz, die Kathleen (Franziska Hartmann) überkommen, werden geradezu physisch spürbar.

Die offene Frage, was genau geschehen ist, hält die Spannung von Anfang an hoch. Buch und Inszenierung bleiben konsequent bei der Hauptfigur; das Publikum ist zu keinem Zeitpunkt schlauer und sieht das Unglück allein mittels der grobkörnigen Erinnerungsbilder in Kathleens Kopf, die im Verlauf des Films nach und nach den Ablauf rekonstruieren. Klar ist nur, dass sich eine ganz alltägliche Situation in einen Alptraum verwandelt hat. Bei einem Kita-Ausflug, bei dem drei Erzieherinnen mit 17 Kindern in die nahe Natur loszogen, hatten zwei Kinder unbemerkt die Gruppe verlassen. Als Kathleen ihr Fehlen bemerkt und vom Lagerfeuer zu dem Flusswehr eilt, ist es für den kleinen Nico zu spät. Und ob die ins Krankenhaus eingelieferte Jenny überlebt, bleibt ungewiss. Damit knüpft der Film an reale Ängste vieler Zuschauer*innen an, die ihre Kinder täglich in die Obhut anderer Personen geben oder die eben diese enorme Verantwortung übernehmen – mit stets ungewissem Ausgang.

Wie konnte dieses Unglück passieren? Die ungeklärte Frage steht bleischwer in dem eng begrenzten, überschaubaren Raum, denn die Geschichte ist in einer Reihenhaussiedlung am Rande irgendeiner Stadt angesiedelt. Hier kennt jeder jeden, Nicos Mutter wohnt in Sichtweite gegenüber dem Haus von Kathleens Familie. Alle wissen Bescheid, gehen Kathleen fortan aus dem Weg oder blicken ihr stumm hinterher. Regisseur Stephan Lacant, ein Spezialist für eindringliche Dramen („Toter Winkel“, „Freier Fall“, „Fremde Tochter“), weiß ihre plötzliche Ausgrenzung ohne viele Worte zu erzählen. Und Franziska Hartmann gelingt es, die schiere Verzweiflung, die Empathie, aber auch die Robustheit der Figur überzeugend zu verkörpern. Kathleen verkriecht sich nicht, sucht das Gespräch mit ihren Kolleginnen und versucht herauszufinden, welche Schuld sie persönlich an der Tragödie trifft. Dass sie Teile des Geschehens verdrängt zu haben scheint, ist angesichts des gewaltigen Schocks nachvollziehbar. Etwas gewagt erscheint allenfalls, dass sie der Aufforderung der von ihrem Mann empfohlenen Anwältin (Deniz Orta) folgt und persönlich bei Jennys Familie nach Umständen forscht, die sie entlasten könnten.

KaltFoto: WDR / Michael Kotschi
Wie konnte dieses Unglück passieren? Die ungeklärte Frage liegt bleischwer über der Szenerie, dem begrenzten, überschaubaren Raum einer Reihenhaussiedlung. Melanie Sieten (Patricia Aulitzky) kann Kathleen (Franziska Hartmann) nicht verzeihen.

In vielen eindringlichen Szenen gelingt es, die Folgen eines solchen Unglücks für die Betroffenen spürbar werden zu lassen. Der 1954 geborene Pädagoge und Drehbuch-Autor Hans-Ullrich Krause hat dabei auch die Kinder und ihre eigenständigen Persönlichkeiten im Blick, insbesondere Kathleens Sohn Luca (Johann Barnstorf), den die mögliche Mitschuld seiner Mutter am Tod seines Spielkameraden aus der Nachbarschaft stark verunsichert. Einerseits wehrt sich Luca aggressiv gegen Anfeindungen in der Schule, andererseits sucht er den Kontakt zu Melanie Sieten (stark: Patricia Aulitzky), Nicos Mutter. Auch Jennys Bruder Ronald (Rankin Duffy) erhält eine keineswegs unbedeutende Nebenrolle. Zugleich lenkt der Film die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des nicht gerade üppig entlohnten Berufs Erzieher*in. Kathleens Kolleginnen, die bei dem Ausflug ebenfalls für die Aufsicht über die Gruppe zuständig waren, reagieren unterschiedlich, die eine mit unversöhnlicher Abgrenzung, die andere mit dem Ausstieg aus der Berufsausbildung. „Alles gut“ wird gewiss nichts, aber in dem überzeugenden Finale findet der Film eine Antwort auf die Frage, was es bedeutet, nach einer solchen Tragödie Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Drehbuchautor Hans-Ullrich Krause über „Kalt“:
„Neben der großen Frage nach Schuld und Verantwortung hat der Film auch andere Themen. Mich hat interessiert, wie es um die Frage des ‚Risikos‘ steht. Moderne Gesellschaften setzen sehr viel daran, Risiken einzugrenzen, zu verringern oder ganz auszuschließen. Sie erfinden immer mehr, damit möglichst kein Schaden, kein Unglück entstehen kann. Das ist ja im Prinzip auch richtig. Und natürlich wäre es wunderbar, wenn niemandem ein Unfall, irgendein vermeidbares Unglück geschieht. Aber dieser Versuch alles zu kontrollieren (…) führt in einer Nebenwirkung dazu, dass wir Menschen unsere Achtsamkeit verlieren. (…) Wir haben kein Gefühl mehr für Gefahren, wir haben keinen Instinkt dafür, dass etwas schiefgehen könnte. Wenn man so will, fangen wir sehr früh damit an, Kindern die Verantwortung für Gefahren abzunehmen, weil wir alles aus dem Weg räumen, was gefährlich werden könnte. Das kann ich als Vater und Großvater verstehen und mache es auch so, aber es führt zu dem beschriebenen Problem. Als seit vielen Jahren Verantwortlicher einer großen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung weiß ich auch, was Institutionen tun müssen und auch tun wollen, damit niemandem etwas passiert. Und es ist natürlich absolut wichtig, Risiken einzuschränken. Aber: Niemand sollte sich sicher fühlen, nur weil er oder sie sich an die Regel hält.“

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Fernsehfilm

WDR

Mit Franziska Hartmann, Božidar Kocevski, Johann Barnstorf, Anne Ratte-Polle, Patricia Aulitzky, Svenja Hermuth, Luise von Finkh, Judith von Radetzky, Rankin Duffy, Nele Rosetz, Gabriele Völsch

Kamera: Michael Kotschi

Szenenbild: Stefan Schoenberg

Kostüm: Heike Hütt

Schnitt: Dirk Grau

Musik: Dürbeck & Dohmen

Redaktion: Caren Toenissen

Produktionsfirma: Kineo Filmproduktion

Produktion: Peter Hartwig

Drehbuch: Hans-Ullrich Krause

Regie: Stephan Lacant

Quote: 4,02 Mio. Zuschauer (15,3% MA)

EA: 02.11.2022 20:15 Uhr | ARD

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