Am Vorabend seiner Krönung zum deutschen Kaiser jammert Wilhelm I., das werde „der unglücklichste Tag meines Lebens“. Der Preußen-König befürchtet, dass sein Reich im neuen deutschen Nationalstaat untergehen und dass die Hohenzollern-Dynastie an Macht & Einfluss verlieren werde. Preußens Ministerpräsident Otto von Bismarck fädelt hinter den Kulissen trotz der mangelnden königlichen Begeisterung die Einigung der deutschen Staaten ein, und Wilhelm I. lässt sich schließlich doch am 18. Januar 1871 zum Kaiser krönen – im Spiegelsaal von Versailles, denn Preußen und seine Verbündeten sind drauf und dran, den Krieg gegen Frankreich zu gewinnen und stehen schon seit Wochen mit ihren Truppen vor den Toren von Paris. Die Kaiserkrönung ausgerechnet im pompösen Versailles, der einstigen Residenz der französischen Könige, ist eine empfindliche Demütigung des bezwungenen Nachbarn. Der revanchiert sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, indem die Verhandlungen um den Friedensvertrag nach der Kapitulation Deutschlands ebenfalls in Versailles geführt werden.
Man muss dem Dokudrama von Dirk Kämper und dem Historiker Lothar Machtan (Drehbuch) sowie Christian Twente (Regie) zugutehalten, dass in „Kaiserspiel in Versailles“ verschiedene Perspektiven und Zeitebenen für Abwechslung sorgen und die Rolle Bismarcks in Ansätzen auch kritisch eingeordnet wird. So werden die Zustände in der belagerten französischen Hauptstadt nicht nur mit grafischen Animationen, historischen Fotos und Kommentaren aus dem Off erzählt, sondern auch in Spielszenen mit der Revolutionärin Louise Michel (Oona von Maydell) im Mittelpunkt. Dabei geht es um den Machtkampf in der Stadt, um den Hunger und die naive Entschlossenheit, mit der sich die schlecht bewaffneten Zivilisten auf die Preußen stürzen wollen. Und nachdem Bismarck das Ende der „lauen Beschießung“ von Paris fordert, zeigen historische Fotos die verheerenden Folgen des preußischen Bombardements.
Mit den aufwändigen historischen Serien oder Kinodramen der Gegenwart kann eine solche TV-Produktion trotz aller Ambitionen bei Kostümen und Szenenbild natürlich nicht mithalten. Aber die beträchtliche Kluft ist zum Teil auch hausgemacht: Die fiktionalen Szenen sind fast ausschließlich mit Dialogen vollgestopft, weil sich meist doch der dokumentarische Anspruch durchsetzt. Umso mehr fallen die wenigen, wohltuenden Ausnahmen auf: Einmal sieht man, wie sich der alte Preußen-König (Peter Meinhardt) morgens mühsam aus dem Bett erhebt, die nackten Füße suchen die Pantoffeln. Dann hilft ein persönlicher Diener Wilhelm I. wortlos beim Ankleiden – aus einem gebrechlichen Mann im Nachthemd wird ein König in stattlicher Uniform. Etwas mehr gestalterischer Mut täte solchen Dokudramas jedenfalls gut.
Zentrale Figur ist Otto von Bismarck, den Thomas Thieme meist mit gelassener Autorität spielt. Nur einmal fährt er aus der Haut, doch der Versuchung, den „Eisernen Kanzler“ als polternden Macht- und Kraftprotz darzustellen, widersteht Thieme. Das kann sich sehen lassen, auch wenn Thieme hier schauspielerisch wohl eher unterfordert war. Sein Bismarck ist ein taktisch versierter Politiker, dem mürrischen Wilhelm, dem ungeduldigen Kronprinzen (Holger Daemgen) und dem von einem Blasenleiden gequälten Napoleon III. (Hubertus Hartmann) stets überlegen. Napoleons Gemahlin, Kaiserin Eugénie (Anna Tenta), bringt immerhin etwas Leben in die männlich-steife Uniform- und Bart-Parade. Während ihr Gatte einen ziemlich schlappen Eindruck macht, schmeißt sie im Palast wütend mit Geschirr um sich. Schade, dass es keine Begegnung zwischen ihr und Bismarck gab (jedenfalls nicht im Film). Die Zustimmung zur Kaiser-Proklamation und Reichsgründung erkauft Bismarck schließlich vom Rosenblätter zupfenden Bayern-König Ludwig II. (Matthias Eberle) mit einem Millionen-Zuschuss für den Bau von Neuschwanstein. Eigentlich eine schön garstige Geschichte von Korruption & Hinterzimmerpolitik, aber die Verhandlung zwischen Bismarck und Ludwigs Vertrautem Max von Holnstein gerät als fiktionales Spiel lang und ermüdend.
Streckenweise amüsant ist die dritte Handlungsebene: 1919 treffen sich die nun ergraute Eugénie (Marie Anne Fliegel) und Luise von Baden (Petra Kelling), Tochter von Wilhelm I., im Schloss Arenenberg am Bodensee, dem Wohnsitz der französischen Ex-Kaiserin, und kommentieren das Geschehen von 1870/71 mit zeitlichem Abstand und aus der jeweiligen nationalen Perspektive. Ein deutsch-französischer Kaffeeklatsch mit zwei hochrangigen Vertreterinnen des untergehenden Adels, der gerne noch pointierter und böser hätte ausfallen können. Immerhin entsteht auf diese Weise eine Brücke ins 21. Jahrhundert, das noch weitere Kriege mit noch verheerenderen Folgen gesehen hat. Die machtpolitischen Manöver Bismarcks hatten daran ihren Anteil, weil sie die Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich vertieften. Ob sich der gewiefte Strippenzieher wirklich um den „Frieden in Europa“ sorgte, wie Bismarck mal im Film sagt, darauf deutet in dem Dokudrama wenig hin.