“Manchmal glaube ich an Bestimmung”, sagt Max Färberböck. Mit “Jenseits”, dem ersten Film nach seinem Kinoerfolg “Aimée und Jaguar”, hat er aus jenem Moment der Fügung und dem sich daraus entwickelnden Räderwerk der tieferen emotionalen Verwicklungen ein ebenso beklemmendes wie brillantes Fernsehspiel gezaubert. Ein Unfall überschattet ein Leben, zieht mehrere Menschen in die Katastrophe. Ein TV-Movie-Stoff, Färberböck macht ein Seelendrama daraus. “Es geht um den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben.”
Mathias Mund ist außer sich. Ausgerechnet er, der immer wusste, was richtig und falsch ist, der als Staatsanwalt den Angeklagten predigte, dass alles, was im Leben geschehe nach den Regeln der Kontrolle und Verantwortung zu passieren habe! “Es hat genau eine Sekunde gedauert, um alles, an was ich geglaubt habe, auszulöschen”, sagt er Wochen nach seiner Tat. Mathias Mund hat einen 11-jährigen Jungen überfahren. Er ist unschuldig, aber er macht genau das, was er von Staatswegen nie und nimmer hätte tun dürfen: Er verliert die Kontrolle, begeht Fahrerflucht unter Schock und verursacht nur halb bei Bewusstsein einen zweiten Unfall, mit dem er den ersten vertuschen kann. Sein Leben ist zu einem Albtraum geworden. Erst als er beschließt, der Mutter des toten Kindes beizustehen, geht es ihm langsam besser. Er rettet sie vor dem Selbstmord, aber zum Geständnis fehlt dem Mann der Mut.
Foto: ZDF
Kritik: “Jenseits” von Max Färberböck
“Ich war nicht mehr ich selber – ich war jenseits …” Die Hauptfigur in Max Färberböcks außergewöhnlichem Fernsehfilm “Jenseits” hat lange geschwiegen. Man spürte immer wieder in den spannenden 105 Minuten, dass er einen Anlauf versucht; aber immer wieder verschlägt es ihm die Sprache. Ein Unfall und alles ist anders. Ein Mann befindet sich in einem Alptraum, nur langsam bekommt er wie- der Boden unter den Füßen, dann taumelt er erneut. Sylvester Groth gab eine Vor- stellung davon, wie man sich fühlt, wenn einem droht, seine Existenz zu verlieren, wenn die Schuld an einem nagt und wenn man versucht, einen ausweglosen Kampf um das Leben und die Liebe (eines anderen Menschen) zu führen. Immer etwas geistesabwesend, neben sich stehend, dann wieder mit lichten Momenten, in denen der Mann der Ordnung durchschlug. “Jenseits” ist erzählt wie die meisten großen Filme. Alles kommt, wie es kommen muss: das Unheil, die Rettung, die Annäherung, die völlige Abkehr, die selbstverständliche Nähe. Der Film verzichtet auf Nebensächliches, bleibt konzentriert bei seinen drei Hauptfiguren, zeigt in seiner Geschichte, aber auch in der Art, wie Färberböck sie erzählt, wie aus etwas vermeintlich Kleinem etwas ganz Großes mit einer nachhaltigen Wirkung werden kann. Dabei muss ein tragisches Ende, wie die finale Umarmung beweist, nicht unbedingt zwingend sein. “Jenseits”, das getragen wird von einem exzellenten Sounddesign, besticht durch die Wucht der Mittel ebenso wie durch seine Strenge: Emotional gestimmt folgt man dem Existenz bedrohenden Wahrnehmungstaumel des Helden, ohne ihm zu erliegen. tit.
Wie lange kann das gut gehen? Wie wird die trauernde Mutter, die sogar einen Privatdetektiv engagiert hat, um den flüchtigen Autofahrer zu finden, reagieren, wenn sie erfährt, wer ihr liebevoller neuer Freund ist? Wird der Wille, der Frau wieder Lebensmut zu schenken, dann nicht endgültig umsonst sein? Fragen, die den Zuschauer in jeder Szene von “Jenseits” be- schleichen und ihm eine größtmögliche Grundspannung bei kleinstmöglicher äußerer Handlung verleihen. Die Geschichte scheint so klein und alltäglich zu sein und rüttelt doch so kräftig an die Grundmauern eines rationalen Weltbilds. Wie sich Worte und Erklärungen um sich selbst drehen, wenn man “außer sich” ist, wenn das Glück einen verlassen zu haben scheint – davon erzählt der Film. “Die Schicksalsspirale dreht tiefer und tiefer, das ist schrecklich”, so Färberböck – und Sylvester Groth gibt diesem Schrecken ein Gesicht.
Neben Groth überzeugen auch die anderen Darsteller: Ekaterina Medvedeva, Anja Kling und Rudolf Kowalski. Aber “Jenseits” ist kein Film der Einzelleistungen; die 105 Minuten wirken wie aus einem Guss. Es ist einer der wenigen Fernsehfilme der letzten Zeit, die noch etwas erzählen – bis zur letzten Konsequenz. Da ist kein Platz für erzählerische Konventionen und dramaturgisches Regelwerk. “Wir sind gewöhnt, dass die Figuren auf einfache Nenner und absolute Verständlichkeit heruntergeschrieben werden”, beschreibt Färberböck den wenig inspirierenden Status Quo heutiger TV-Arbeit. Das schaffe Gewohnheiten, die fürs Erzählen tödlich sind. “Doch was hat das mit Leben zu tun, wo doch Handlungen von Menschen, wenn sie uns wirklich treffen, absolut mysteriös und unverständlich erscheinen?!”
Foto: ZDF
Das waren noch Zeiten! „Es ist der beste Fernsehfilm des Zweiten Deutschen Fernsehens in einer Reihe herausragender Produktionen. Während die ARD in jüngster Zeit bevorzugt Brigitte-TV veranstaltet und sich in ihren Fernsehfilmen mit Partnerproblemen jeder erdenklichen Art beschäftigt, hat sich im ZDF der Montagabend als wichtiger Sendeplatz des außergewöhnlichen Spielfilms etabliert. Um nur drei Wochen zurückzuschauen: Da war die Stasigeschichte ‚Romeo‘ von Hermine Huntgeburth, da gab es das Revierdrama ‚Rote Glut‘ von Mark Schlichter und nun kommt ‚Jenseits‘ von Max Färberböck.“ (Berliner Zeitung)
“Stilles Drama, aber auch grotesk und böse” (TV-Spielfilm)
Deutscher Fernsehpreis für Kameramann Carl-Friedrich Koschnick