Immer der Nase nach

Claudia Michelsen, Corinna Harfouch, Kerstin Polte. Weltentwurf statt Genreklischees

Foto Rainer Tittelbach

Kann ich jederzeit mein Leben noch mal auf Anfang stellen? Ist ein Neubeginn mit über 50 eine neue Chance oder eine romantisch-naive Lüge? Die Hauptfigur in der ZDF-Komödie „Immer der Nase nach“ (U5 Filmproduktion) stellt sich solche Fragen, denn sie steckt in der Krise, und die Angst abgehängt zu werden, lässt sie mitunter panisch reagieren. Die von Claudia Michelsen gespielte Frau wird die Kurve kriegen, aber nicht, weil es die Komödien-Dramaturgie so will, sondern weil sich diese Einzelkämpferin nicht nur weiterhin auf sich selbst verlässt, sondern bei Anderen Inspiration findet – auch bei Jüngeren, die genauso ihr Päckchen zu tragen haben. Kersten Polte & Co gelingt das besondere Kunststück, die kleinen vermeintlich banalen Dinge des Alltags mit den großen Fragen des Lebens zu verbinden, ohne dass daraus banales Ratgeberfernsehen wird. In der Präsentation ist das locker & in der Sache für einen Unterhaltungsfilm sehr bestimmt, aber nie pädagogisch, sondern filmästhetisch wertvoll, mit Phantasie und Liebe zum Detail erzählt: Die Entschleunigung des Alltags, die die Berlinerin für sich entdeckt, bietet sogar ein Stück weit auch dieser lebenskluge Film, ein besonderes Kunststück in einem Medium, das selbst die Hektik des Alltags reproduziert.

Eine Frau, Anfang 50, in der Krise. „Das Leben schlägt mich kaputt“, zieht Tanja (Claudia Michelsen) Bilanz der letzten Wochen: Tochter Lisa (Lena Klenke) gerade ausgezogen, ihre Zukunft als Schaufensterdekorateurin in Zeiten des Internets unsicherer denn je, und zunehmend Sorgen bereitet ihr auch die Mutter (Angela Winkler), die unbeirrt ihre letzten Dinge regelt. Dagegen war die Trennung von Tanjas Mann (Stephan Szàsz) nach 20 Jahren längst überfällig; dass er allerdings gleich wieder „was Festes“ (Thelma Buabeng) an Land gezogen hat, stört sie schon ein bisschen. Gut, dass sie sich bei all dem Ungemach stets auf Freundin Imke (Corinna Harfouch) verlassen kann. Außerdem bekommt ihr Leben unvermittelt neue Impulse, als sie den sehr viel jüngeren Lebenskünstler Nick (Helgi Schmid) kennenlernt. Der angelt Schrott aus der Spree, schreinert daraus schräge Sachen und hat einen beruhigenden Einfluss auf Tanja, die immer weniger weiß, wo ihr der Kopf steht. Denn beruflich will sie es noch einmal wissen – und bereitet einen Pitch für einen hippen Concept-Store vor. Die Konkurrenz ist jung, dynamisch und hat mehr Energie als sie. Dafür hat sie mehr Erfahrung. Also schmeißen sie und die alleinerziehende Digital-Expertin Alev (Banafshe Hourmazdi) ihr Knowhow zusammen und brauchen jetzt nur noch eine zündende Idee.

Immer der Nase nachFoto: ZDF / Volker Roloff
Die digitale Oberflächenwelt beherrschen die Jungen zwar besser als die Älteren, mit den Sinn-Fragen hat die Generation Z allerdings größere Probleme. „Ich weiß einfach nicht, wo ich hingehöre“, sagt Lisa (Lena Klenke). Mutter Tanja (Michelsen) verzettelt sich allerdings auch noch mit 50.

Wer bin ich? Wer will ich sein? Kann ich jederzeit mein Leben noch mal auf Anfang stellen? Ist ein Neubeginn mit 50 eine neue Chance oder eine romantische Lüge, mit der Glückscoachs Kohle machen? „Wir sind, wer wir sind“, sagt Hauptfigur Tanja in der ZDF-Komödie „Immer der Nase nach“, nachdem sie lange herumgeeiert ist, weil sie ihr eingeübtes Verhaltensmuster, alle Rollenerwartungen und beruflichen Ansprüche zu erfüllen, nachgegeben hat. Die letzten Wochen wurden noch verschlimmert durch den Optimierungswahn, den ihr die jüngere Generation vorlebt. Die Angst abgehängt zu werden, lässt die Heldin mitunter panisch reagieren. „Ich habe das Gefühl, ich muss doppelt existieren oder dreifach; ich komme einfach nicht mehr hinterher mit dem Tempo: meine Mutter, mein Job, Lisa“, klagt die selbstständige Single-Frau, auf die natürlich auch noch Berlin, diese Stadt der tausend Möglichkeiten, weiteren Druck ausübt. Als ihr nach diesem Lamento die beste Freundin, die sich mit ihren Problemen allein gelassen fühlt und die nicht länger Kummerkasten sein will, eine schallende Backpfeife verabreicht und sich von ihr abwendet, scheint das der Anfang vom Ende zu sein.

Es wird anders kommen. Aber nicht, weil es die Komödien-Dramaturgie so verlangt, sondern weil die einzelkämpferische Tanja sich nicht nur weiterhin auf sich selbst verlässt, sondern bei Anderen Inspiration findet. Der sensible Schrottangler vermittelt ihr eine neue Lust an der Wahrnehmung, die Inspiration des Sich-Treiben-Lassens, die Kraft der Stille. Sie erkennt, dass „Digital Experience Designer“ zwar cooler klingt als Schaufensterdekorateurin, dass die Online-Kompetenz für ihre berufliche Zukunft unabdingbar ist, aber sie sieht zugleich, dass auch die jungen Leute nur mit Wasser kochen und genauso – wie beispielsweise Alev – kämpfen müssen, um ihr Leben zu meistern. Schmerzlich vermittelt Tanja die eigene Tochter, wie schwer es dieser Generation fällt, einen Platz im Leben zu finden. Und heilsam war auch Imkes unverhoffter Schlag. Das Schöne an diesen vielen kleinen biographischen Fußnoten, aus den die Geschichte des Films besteht, ist der Verzicht auf die gewohnten Schubladen und dramaturgisch aufbereiteten Gegensätze: So wird nicht ständig auf dem Alter der Heldin herumgeritten. Mit über 50 im Club, wen juckt’s! Keine schiefen Blicke auf die reife Konkurrentin beim Pitch-Briefing. Auch der Altersunterschied zwischen Tanja und Nick ist bald kein Thema mehr; auffälliger hingegen das fluide Rollenverständnis jenseits klassischer Mann-Frau-Bilder, wie sie in Fernsehfilmen üblich sind. Die Charaktere suchen nach sich selbst, Autor-Regisseurin Kerstin Polte („Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“) in ihrem zweiten Langfilm nach einer besseren Welt. Wer das „unrealistisch“ findet, der sollte nicht vergessen, dass Filme, insbesondere Komödien, nicht nur Wirklichkeit spiegeln, sondern sie auch transzendieren können, indem sie alternative Lebensmodelle durchspielen.

Immer der Nase nachFoto: ZDF / Volker Roloff
Zwei Generationen, zwei Sprachen und doch viele Gemeinsamkeiten. „Digital Experince Designerin“ stellt sich Alev (Banafshe Hourmazdi) bei Tanja (Claudia Michelsen) vor. Und die lächelt freundlich zurück: „Schaufenster-Deko-Designerin“.

Soundtrack: José González („Teardrops“), Ultra Orange & Emmanuelle („Bunny“), Ane Brun („My Star“), Jeff Beck & Joss Stone („I put a spell on you“), Feist („Gatekeeper“), Doris Day („Perhaps, perhaps, perhaps“)

Polte gelingt mit ihren Mitstreiterinnen, der Produzentin Katrin Haase, der ZDF-Redakteurin Beate Bramstedt und Claudia Michelsen (die – wie man sieht – auch Komödie kann!) als dem darstellerischen Zentrum des Films das besondere Kunststück, die kleinen vermeintlich banalen Dinge des Alltags mit den großen Fragen des Lebens zu verbinden, ohne dass daraus Ratgeberfernsehen werden würde. In der Präsentation ist das locker, in der Sache aber für einen Unterhaltungsfilm sehr bestimmt. Jede Figur hat ihre persönliche Geschichte, doch die Sinn-Fragen sind universell. „Ich weiß einfach nicht, wo ich hingehöre“, bringt es die junge Lisa auf den Punkt. Ihre Mutter Tanja ist sich da schon sicherer, und doch ist sie auch noch mit über 50 leicht aus dem Konzept zu bringen – weil sie perfekt sein will, aber schließlich auch, weil sie lernt, ihr bisher gelebtes Leben immer wieder grundsätzlich in Frage zu stellen. Das klingt vielleicht etwas pädagogisch, aber keine Angst, Kerstin Polte gibt in erster Linie weder Botschaften noch Anweisungen fürs „richtige“ Leben, sie erzählt vielmehr Geschichten über Menschen, die sehr unterschiedlich im Leben stehen. Die leichtfüßig und beiläufig eingestreute Diversität hinterlässt also auch Spuren in den (Sub-)Plots. Was der Heldin gut tut, das weiß diese spätestens im weitgehend realistisch offen erzählen Finale. Und der Großteil der Zielgruppe wird der sinnlichen Erkenntnis der Hauptfigur nur beipflichten können.

Die Entschleunigung des Alltags und die Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung gehört nicht nur zur Überlebensstrategie der Hauptfigur, sondern sie geht auch wunderbar in die Ästhetik des Films ein. In einem Oberflächen-Medium wie dem Fernsehen, das ja selbst mit seinem Dauerfluss ohne Stillstand die Hektik des Alltags reproduziert, ist auch das eine hohe Kunst. Polte und Kamerafrau Katharina Bühler gelingt das unter anderem mit liebevollen Zwischenbildern, in denen Marienkäfer und anderes Kleingetier die Handlung vorausdeutend, aber vor allem höchst sinnlich kommentieren. Die Phantasie, mit der das Leben in die Zeichenwelt des Films übertragen wird, die Liebe zum Detail auf allen filmischen Ebenen (auch der narrativen) zeichnet diesen Film aus: Da sind die veränderten Codes der Generationen (andere Drogen, andere Sitten), die vielfältige Einarbeitung des Nachhaltigkeits-Prinzips, die bewusste Darstellung der privaten und öffentlichen Räume (eine Häuserwand als gesellschaftliche Reflexionsfläche). All dies wird mit Augenzwinkern statt mit Ausrufezeichen und großen Reden präsentiert. Neben den knappen, präzisen Dialogen beeindrucken vor allem die liebevollen Bildkompositionen und die sorgfältige Ausstattung, die die Figuren charakterisieren und den Zuschauer lustvoll einladen in diese antiautoritäre Schule des Sehens und eine Fernseh(tragi)komödie, die zugunsten eines sympathischen Weltentwurfs auf eine konventionelle, geschlossene Genrestruktur verzichtet. (Text-Stand: 31.7.2021)

Immer der Nase nachFoto: ZDF / Volker Roloff
In „Immer der Nase nach“ spielen Äußerlichkeiten und Oberflächliches keine Rolle. Nicht der Altersunterschied interessiert, sondern die inneren Beweggründe, weshalb sich Nick (Helgi Schmid) und Tanja (Michelsen) anziehend finden, sind entscheidend. Nur die werden thematisiert. Für die Heldin ist die Sensibilisierung der eigenen Wahrnehmung (durch Nick) ein großer Gewinn.

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

ZDF

Mit Claudia Michelsen, Corinna Harfouch, Helgi Schmid, Lena Klenke, Banafshe Hourmazdi, Stephan Szász, Thelma Buabeng, Larissa Sirah Herden, Lena Eickenbusch, Daniel Zillmann, Meik van Severen, Rafael Gareisen

Kamera: Katharina Bühler

Kostüm: Tanja Liebermann

Szenenbild: Holger Sebastian Müller, Anne Storandt, Winnie Christiansen

Schnitt: Julia Wiedwald

Musik: Marco Meister, Robert Meister, Hannes Gwisdek

Redaktion: Beate Bramstedt

Produktionsfirma: U5 Filmproduktion

Produktion: Katrin Haase, Karl-Eberhard Schäfer

Drehbuch: Kerstin Polte

Regie: Kerstin Polte

Quote: 2,67 Mio. Zuschauer (10,3% MA)

EA: 26.08.2021 20:15 Uhr | ZDF

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach