Eine Frau beginnt zu zweifeln: an sich selbst, an ihrem Glauben, an ihrem Beruf, an ihrer Ehe. Das ist ungewöhnlich für Judith Ehrmann, die alle nur kennen als besonnene und engagierte Pfarrerin, die mitten im Leben steht, in der modernen Gesellschaft angekommen ist, und die stets den richtigen Ton trifft. Nicht umsonst soll sie Landesbischöfin werden. Die Frau, die neben ihrer Arbeit in der Gemeinde auch noch als Notfallseelsorgerin Beistand leistet, gerät in eine tiefe emotionale Krise. Bei einem Verkehrsunfall mit Fahrerflucht kommt ein 16-jähriges Mädchen ums Leben, der junge Mann am Steuer ist schwer verletzt. Die Eltern sind verzweifelt; aber der Unfall hat auch Auswirkungen auf das Familienleben der Ehrmanns. Vater und Teenagersohn kennen die Opfer gut, doch schlimmer noch: Das den Unfall mit verursachende Auto ist ein schwarzer Kombi – genau so eines fährt ihr Ehemann Christoph, der in der Nacht des Unfalls nicht erreichbar war und der ausgerechnet am Tag danach seinen Wagen zur Werkstatt bringt. Auch Judiths Sohn Paul verhält sich seltsam. Es scheint, als ob er und sein Vater ein Geheimnis vor ihr hätten. Und dann ist da auch noch dieser Kommissar, ein bekennender Atheist, der der Pfarrerin durch die Blume Komplimente macht.
Claudia Michelsen über das Zusammenwirken von Glaube & Zweifel:
„Der Glaube und der Zweifel sind ja nicht voneinander zu trennen. Egal, woran ich glaube. Der Zweifel, die dunkle Stimme, die mich immer wieder infrage stellt. Darum geht es; sich Fragen zu stellen, ohne sich dabei zu verlieren: Wenn ich nur zweifle, verliere ich mich. Aber wenn ich gar nicht zweifle, bin ich ein unerträglich selbstgerechter Mensch. Es geht immer um die Balance.“
„Im Zweifel“ ist gleichsam Frauenporträt und moralische Filmerzählung, Ehe-Drama und lebensphilosophischer Diskurs über das Vertrauen. Die theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung legen sich geradezu leitmotivisch über die Szenen; der Glaube und der Zweifel geraten in Wettstreit, anfangs in lakonischen Dialogen zwischen der Pfarrerin und dem Kommissar über Regeln, Fußball und kosmische Zufälle, später werden die Gefechte weitaus weniger amüsant in der Seele der Heldin ausgetragen. Und doch kann dieses hoch intensive, aufs Wesenhafte konzentrierte TV-Drama auch für Nichtgläubige Ort der Erbauung sein. Der Glaubensbegriff sprengt hier den Rahmen von Religion und Kirche. „Jeder von uns glaubt an irgendetwas, und wenn es nur man selber ist oder die eigene Karriere oder die Biologie; deshalb wird es zwischen Menschen spannend, wenn das Wissen endet und der Glaube anfängt“, so Regisseurin Aelrun Goette, „denn das, woran ich glaube, erzählt vor allem etwas über mich.“ Und so geht es in diesem Film nach dem Drehbuch von Dorothee Schön auch nicht in erster Linie um die (Un-)Fehlbarkeit einer Pfarrerin, sondern um die eines Menschen, die neben Predigerin und Seelsorgerin auch Ehefrau und Mutter ist. Und es geht vor allem um Wahrheit, Wahrhaftigkeit, um persönliche Verantwortung – und um Haltung. Die Geschichte lässt sich aber auch lesen als Erkenntnisweg einer sehr dominanten Frau, deren Wertesystem ins Wanken gerät und die ihre eigene Unvollkommenheit erkennen muss.
Claudia Michelsen spielt jene Judith Ehrmann, eine – wie der Name schon sagt – „dem Göttlichen Zugeneigte“, würdevolle, starke Frau, die die richtigen Worte findet, die mit ihnen zu trösten weiß, die aber – obwohl Gottesfrau – vor einer Lüge nicht zurückschreckt, wenn es den Betroffenen hilft oder es um die eigene Familie geht. „Auch diese Frau strauchelt und sucht“, bringt es Michelsen auf den Punkt. Das Gesicht der Schauspielerin, doppelt Grimme-Preis-gekrönt wie auch Autorin Schön und Regisseurin Goette, ist es, das den Zuschauer durch den Film mitnimmt. Es „spricht“ zu uns. Anfangs, bei der Einführung ihrer Person, in klaren Gesten, klaren Worten, ganz bei sich und Gott. Später muss sie sich an ihren eigenen Worten festhalten: „Der Zweifel kann ein Ort der Begegnung sein.“ Schön gesagt. Später geht sie mit dem Kommissar Abendessen – und da ist ihr Verhalten plötzlich gar nicht mehr so sicher und souverän. Michelsen deutet das im nonverbalen Spiel an mit leicht fahrigen Gesten und einer scheuen Unerfahrenheit (noch feiner in den Zwischentönen als zuletzt im Affäre-Thriller „In der Falle“). Stets spielt sie nur das Wesentliche einer Situation, den Gefühlskern, nahezu bis zur Unmerklichkeit reduziert. Sinn und sinnlicher Eindruck verschmelzen zum wahrhaftigen menschlichen Ausdruck, drängen das, was man gemeinhin Geschichte nennt an den Rand. Judith Ehrmann ist die Geschichte von „Im Zweifel“ – und Michelsen ist – um im Sujet zu bleiben – göttlich, und das, gerade weil sie nicht groß, sondern ganz klein spielt.
Wie sich auf dem Gesicht der Hauptdarstellerin das Große und Ganze, Handlung und philosophischer Subtext en detail erkennen lassen, so präzise wählte auch Autorin Dorothee Schön die Situationen, Handlungsorte und Dialoge aus. „Alles ist wichtiger als wir“, sagt der Ehemann – und wenn man diesen Satz an den Umarmungen seiner Frau, der Notfallhelferin, misst, dann hat er recht. Die Interaktionen im Film werden vielschichtig ausgespielt und die Struktur der Erzählung sorgt für die feinen semantischen Zwischentöne. Ein Beispiel: das Essen-Motiv. Im ersten Viertel des Films warten die Seelsorgerin und der Polizist spät am Abend im Auto auf die Eltern, denen sie die Todesbotschaft überbringen müssen: Essend reagieren sie sich ab, es gibt Stullen mit knackiger Gurke und einen ebenso gewitzten wie verführerischen Disput über das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Trotz bitterem Kontext geht es in dieser Szene für protestantische Verhältnisse durchaus lustvoll zu, während das „Abendmahl“ der Ehrmanns wenig später emotional äußerst angespannt ausfällt. Da bleiben den Männern des Hauses die Bissen fast im Halse stecken. Solche zentralen Szenen sind lang, sie verraten viel über den Einzelnen und die Beziehungen untereinander – und man hat genug Zeit, um zu lesen in den Gesichtern. Und in den (ästhetischen) Bildern.
Auch die Bilder sind einfallsreich, akribisch und kleinteilig inszeniert, erzeugen auf sinnliche Weise Bedeutung (wie Michelsens Gesicht), es sind oft kleine Zeichen, die Größeres spiegeln: Vor dem Krankenhaus sinniert die Heldin schön mit geschlossenen Augen – der Polizist taucht plötzlich auf und stellt sich in den Schatten der Frau, die daraufhin erwacht. Im Verlauf der Handlung werden dann die Erweckungsszenen deutlicher. Und auch ein anderes Bild bleibt in Erinnerung. Sie streckt ihrem Mann die Hand entgegen und ihre Arme finden und verknoten sich. Ob das eine visuelle Reminiszenz an zwanzig Ehejahre ist oder ein Schimmer Hoffnung für die Zukunft der Ehrmanns – wer weiß. Eindeutig undankbar dagegen ist Henning Baums Rolle als Ehemann. Nicht nur, weil der humorvolle Verführer-Bulle, den Thomas Loibl spielt, ein reizvollerer Part ist, sondern auch, weil die Dramaturgie dem Ehemann vor allem die Rolle des sich verdächtig Machenden gibt und leider weniger die Rolle des sich klein Machenden im Angesicht seiner Frau, die bestimmend und „schon qua ihres Berufes der bessere Mensch ist“, welche Baum in seiner Figur sieht. Das bleibt das einzige Manko dieses Films, der neben seiner thematischen Relevanz geradezu eine kinematografische Qualität ins aktuelle Fiction-Fernsehen des coolen Looks bringt und dessen klare Bildsprache in einigen Szenen von den europäischen Meistern der Schlichtheit, Konzentration und des philosophischen Diskurses, Bergmann, Bresson oder Kieslowski, inspiriert zu sein scheint. Edle Einfalt, stille Größe, diese Urformel des Klassischen scheint jedenfalls auch Goettes ikonografisches Prinzip zu sein.