Die überforderte Sabine (Sylvie Testud) überlässt ihre drei Kinder, Jonas (Ben Litwinschuh), Nick (Lutz Simon Eilert) und Miechen (Helena Pieske), ganz ihrem Schicksal. „Du bist jetzt der Chef – wie ein Erwachsener“, sagt sie zu ihrem Ältesten und macht sich auf ins Sonnental, um ihre – wie sie sagt – Dämonen zu besiegen. Die Kinder können nur erahnen, was das bedeutet, sie akzeptieren die Situation und machen das Beste daraus. Anfangs bereitet den dreien, die sich als verschworene Gemeinschaft verstehen, die Zeit ohne die Mutter richtig Spaß, doch bald ergeben sich die ersten Probleme: Das Geld geht aus, das Essen wird knapp, das Haus verwahrlost zunehmend und Miechens Kindergärtnerin stellt unangenehme Fragen. Nur gut, dass das Familienoberhaupt, der zwölfjährige Jonas, auf alles die passende Antwort findet. Mit Hilfe eines seltsamen, jungen Mannes (Ludwig Trepte), der in Reimen spricht und Spinnen verehrt, bekommt er auch das andere hin: Der blaublütige Herumtreiber besorgt ihm Essen, Fahrräder und Medizin für Miechen, die sich bei einer Radfahrt schwer verletzt hat. Auch später, als sich die Lage der Kinder noch verschlechtert, sich das Haus in ein immer gespenstischeres Spinnwebhaus verwandelt, bleibt er der Schutzengel der drei.
„‚Im Spinnwebhaus’ ist ein Film über den inneren Zusammenhalt dreier Kinder. Aus Sicht der Kinder erzählt, die sich in ihre eigene Realität flüchten, um mit der Situation umzugehen. Der Film ist weniger Sozialdrama als ein modernes Märchen in Schwarz-Weiß. Der Zuschauer wird in diese schaurig schöne Welt der Kinder hineingezogen, die ihren ganz eigenen Zauber entfaltet. (Mara Eibl-Eibesfeldt)
Als sich der zwölfjährige Allesversteher nach einem Beinaheunfall seiner depressiven Mutter ans Steuer setzt, ahnt man als Zuschauer, auf welche Reise einen Mara Eibl-Eibesfeldts Debütfilm „Im Spinnwebhaus“ mitnehmen wird. Der Lenker des Autos wird zum Lenker der Familie. Und doch nimmt der Film nicht den erwartbaren Weg, denn der Regisseurin und ihrer Autorin Johanna Stuttmann ging es weniger um die sozialen Aspekte des Stoffs, die kranke, verantwortungslose Mutter, den abwesenden Vater, die Reaktionen von Schule und Kita, sondern darum, was die „unmögliche“ Situation mit den Kindern macht – und es ging ihnen um das Märchenhafte der Geschichte. Hier werden Kinder nicht im Wald ausgesetzt, sie werden in ihrer alltäglichen Umgebung allein zurückgelassen. Der Film bedient sich aber nicht nur stofflicher Motive des Märchens, auch die erzählerische Poesie ist tief verwurzelt in der Vorstellungswelt der Kinder; es ist ihr Blick, mit dem sie das unverantwortliche Verhalten der Mutter decodieren. Aus dem Kontrast zwischen kindlicher Phantasie und (für Erwachsene) unfassbar brutaler Realität entwickelt der Film seinen besonderen Reiz. „Es ist die kindliche Lust am Unheimlichen und Verbotenen, von der dieser Film (auch) erzählt“, erkannte Daniel Kothenschulte in seiner Kritik in der FR zur kleinen Kinoauswertung im März 2016. „Wenn sich das Haus der Kinder in ein geheimnisvolles Biotop verwandelt, sich in Kinderaugen zusehends von selbst verschönert durch barocke Spinnweben, ist der Film bei sich.“
„Man hat viel unechtes Schwarzweiß gesehen in den letzten Jahren, flache Digitalbilder, denen lediglich die Schärfe fehlte. Dies hier ist echtes Schwarzweiß, sind durch feinste Lichtzeichnung modellierte Bildräume. Zugleich werden alle üblichen „Neo-Noir“-Klischees vermieden, diese Kameraarbeit ist keine leere Expression, sondern bei aller Schönheit eine funktionale Bilderzählung.“ (Daniel Kothenschulte: Frankfurter Rundschau)
Für weitere Transzendenz über das Narrative hinaus sorgt die Bildsprache, das zur Abstraktion neigende Schwarzweiß, die sinnlich und zugleich sinnstiftende Kamera von Altmeister Jürgen Jürges (ebenfalls in Schwarzweiß gedreht: Fassbinders „Fontane Effi Briest“, Kleinerts „Wege in die Nacht“) sowie das mysteriöse, an die Ikonografie der fantastischen deutschen Stummfilme („Nosferatu“) oder den Mystery-Thriller-Klassiker „Die Nacht des Jägers“ erinnernde Szenenbild von Stephanie Schlienz. Die Kinder, phänomenal gespielt von Ben Litwinschuh, Helena Pieske und Lutz Simon Eilert, haben sich ihre eigene Welt geschaffen. Aus Tüchern und Decken haben sie sich Höhlen gebaut, in denen sie aneinandergekuschelt schlafen und sich verstecken, wenn an der Haustür das erwachsene Unheil naht. Verziert wird das Ganze von Spinnweben, von immer chaotischerer Unordnung, von Unrat, und als Haustiere halten sich die Kinder neben den Spinnen auch noch Ameisen und alle möglichen Käfer. Auch wenn sich am Ende – scheinbar – alles zum Guten wendet und sich das Kindseindürfen durchsetzt, für das der mysteriöse Freund der Kinder plädiert hat, wie eine pädagogisch-absichtsvolle Geschichte – im Übrigen nach einer wahren Begebenheit – wirkt „Im Spinnwebhaus“ glücklicherweise nicht. (Text-Stand: 10.7.2016)