Ellen steht im Flugzeug in der Mitte des Ganges, aber die tausendmal abgespulten Bewegungen zu dem immer gleichen Text der Sicherheitsvorschriften wirken abgehackt und zunehmend hektisch. Im routiniertesten Augenblick im Arbeitsleben einer Flugbegleiterin packt Ellen die Panik. Sie schnappt überstürzt ihren Rollkoffer und flieht aus dem Flieger. Gegen ihre Kündigung wehrt sie sich nur halbherzig. Ellen bricht aus ihrem uniformierten Alltag aus und beginnt, sich treiben lassend oder von Zufällen getrieben, eine ganz andere Reise. Eine Suche ohne erkennbares Ziel. Deutlicher erkennbar sind die Anlässe für diese Lebenswende: Die Geliebte ihres Lebensgefährten Florian erwartet ein Kind. Bei einem Arztbesuch schaut Ellen, während sie auf den Doktor wartet, auf ihr Patientenblatt – und verlässt verschreckt die Praxis. Und dann ist da noch der Gepard auf dem Rollfeld irgendeines Flughafens in Afrika, der ihr ganz persönlich nachzulaufen scheint.
Foto: WDR / Pandora Film
In „Im Alter von Ellen“, der zweiten Regie-Arbeit nach „Die Unerzogenen“, erzählt Pia Marais keine abgeschlossene Geschichte und beantwortet nicht alle Fragen. Eigentlich beantwortet sie gar keine Fragen, sondern nimmt das Publikum einfach mit auf die Selbstfindungs-Odyssee einer Frau jenseits der 40. Es geht irritierend und rätselhaft zu, aber durchaus nicht angestrengt oder langweilig. Ellen ist ohne Selbstmitleid und während ihrer Midlife-Krise offen für spontanes Kennenlernen und für fremde Welten. Über eine bizarre Hotelzimmer-Orgie und einen im Taxi vergessenen Koffer gerät sie an eine Gruppe militanter Tierschützer und macht am Rande ein bisschen mit bei ihren Aktionen. Und Karl, einer der Aktivisten, macht ihr Avancen und später gar einen Heiratsantrag, damit er nicht zur Bundeswehr muss. Nachdem im Juli 2011 die Wehrpflicht abgeschafft wurde, ist der 2009 gedrehte Film in diesem Detail zwar von der Wirklichkeit eingeholt worden, aber das tut hier nichts zur Sache. Karl ist ohnehin „nur eine Brücke für mich – mehr nicht“, sagt Ellen zu ihrem jüngeren Verehrer.
Pia Marais‘ Film ist schwer einzuordnen, dramaturgisch offen und überraschend, ästhetisch ein unberechenbares Wechselspiel aus traumhaften Bildern und genauem „Realismus“. Einige Szenen wirken etwas überladen: Im weißen Hochzeitskleid läuft Ellen zwischen den von den Tierschützern befreiten (und ebenfalls weißen) Hühnern über die schmutzig-grauen Kieshalden. Beinahe dokumentarisch dagegen das Palaver und Kuddelmuddel in der Tierschützer-Kommune – eine auch komische Darstellung basisdemokratischer Strukturen lange nach 1968. Das von streunenden Katzen und Hunden bevölkerte Chaos dort kontrastiert mit der glattpolierten Welt der Flughäfen und Hotels, doch diese saubere Ordnung ist kühl und nicht minder abstoßend. Dazwischen bewegt sich Ellen wie eine Fremde, wie ein eigener Kosmos, ohne Halt, aber frei – großartig, wie filigran und vielschichtig die französische Hauptdarstellerin Jeanne Balibar diese Rolle interpretiert. Ein schönes, unspektakuläres Frauen-Porträt, wobei auch die männlichen Nebenrollen, mit Stefan Stern und Georg Friedrich gut besetzt, keinesfalls Klischee-Beiwerk sind. (Text-Stand: 1.11.2013)